Der Geigerzähler spielt verrückt. In der Ferne glänzt die Schutzhülle über dem Unfallreaktor von Tschernobyl in der Sonne, rechts und links der Strasse erstrecken sich niedrige Bäume, Gebüsch und hohes Gras. Ein verwittertes Schild warnt vor Strahlung.
Mitten im Nirgendwo zeigt unser Führer durch die Sperrzone von Tschernobyl, Anton Juchimenko, auf die Wildnis und sagt: «Dies alles ist das Gebiet des sogenannten Roten Waldes. Das ist der Wald, der 1986 stark gelitten hat unter der Katastrophe. Wegen des intensiven radioaktiven Niederschlags verfärbten sich die Kiefern rot.» Um die Radioaktivität einzugrenzen, wurden die Kiefern abgeholzt und vergraben. Darüber kam eine dicke Schicht Sand.
Ausgerechnet in diesem Roten Wald haben sich russische Truppen während der fünfwöchigen Besatzung im Frühling 2022 buchstäblich eingegraben. Als die Ukrainer nach dem Abzug der Russen in die Sperrzone rund um Tschernobyl zurückkamen, fanden sie abgeholzte Bäume und provisorische Unterstände vor, Schützengräben und Überreste von Konservendosen. Die Soldaten setzten dadurch gefährliche radioaktive Partikel frei, atmeten oder nahmen sie ein. Ausserdem wirbelten die russischen Fahrzeuge und Panzer viel radioaktiven Staub auf, weil sie überall herumfuhren, nicht nur auf den vorgeschriebenen Routen.
Es war meine letzte Nachtschicht. Doch statt nur einer Nacht dauerte sie 20 Tage.
Nicht nur die Sperrzone, auch das AKW Tschernobyl samt havariertem Reaktor wurde von den Russen besetzt. Erlebt hat das der 36-jährige Ingenieur Anton Kuteko. Als am 24. Februar 2022 eine Kolonne russischer Militärfahrzeuge mit einem Panzer an der Spitze bis zum AKW vordrang, begann die längste Schicht seines Lebens. Kuteko sagt: «Es war meine letzte Nachtschicht. Doch statt nur einer Nacht dauerte sie 20 Tage.»
Er und seine Kollegen und Kolleginnen arbeiteten durch, schlafen mussten sie auf Stühlen oder Bänken. Kuteko sagt: «Da das Personal von Kernkraftwerken die Arbeit nicht niederlegen darf, waren wir gezwungen, den Betrieb vorschriftsmässig aufrechtzuerhalten.»
Kuteko betont: «Kriegerische Handlungen kommen in unseren Reglementen nicht vor. Es gibt Vorschriften für Störfälle oder Terroranschläge, aber nicht für Krieg.» Nuklearanlagen seien kein Ort für kriegerische Handlungen, die Folgen könnten unabsehbar sein.
Atomarer Schutzschild vor Gegenangriffen
Das russische Staatsfernsehen behauptete derweil, ihre Streitkräfte müssten das AKW vor ukrainischen Saboteuren beschützen. In Tat und Wahrheit benutzten die Russen das Werk als atomarer Schutzschild vor ukrainischen Gegenangriffen, und die 30-Kilometer-Zone als Rückzugsraum. Bis sie verschwanden, als ukrainische Truppen im Frühling 2022 den Norden des Landes befreiten.
Trotzdem kann das ukrainische Personal nicht aufatmen. Kuteko deutet auf ein gut sichtbares Loch in der Schutzhülle des Unfallreaktors. Dort schlug am 14. Februar dieses Jahres eine Kamikaze-Drohne ein. Sie durchschlug die innere und äussere Hülle und löste in der Gummimembran dazwischen einen Schwelbrand aus, der erst nach Wochen gelöscht werden konnte.
Die 2.1 Milliarden teure Hightech-Schutzhülle erfüllt ihre Funktion nicht mehr: Den nach der Katastrophe eilig gebauten und einsturzgefährdeten Sarkophag hermetisch abzuriegeln und vor äusseren Einflüssen zu schützen. Und dadurch den Rückbau des havarierten Reaktors zu ermöglichen.
Schutz vor Bränden und Blitzen – nicht aber vor Drohnenangriff
100 Jahre hätte die Hülle halten sollen, sie war für Brände und Blitze ausgelegt, aber nicht für einen Drohnenangriff. Ob sie überhaupt repariert werden kann, ist offen. Es trat zwar keine Radioaktivität aus, aber das war einfach nur Glück, wie Ingenieur Kuteko meint. Er und andere Spezialisten sind überzeugt, dass es kein zufälliger, sondern ein gezielter Angriff war: Um Angst und Furcht zu verbreiten. Aus Moskau hingegen hiess es, man würde so etwas nie tun.
Anatolii Nosovski ist Direktor des Instituts für Sicherheitsprobleme von Kernkraftwerken der nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Nosovski erzählt, wie die Ukraine nach dem russischen Einmarsch im Februar 2022 an die internationale Gemeinschaft appellierte, die russischen Truppen daran zu hindern, Tschernobyl zu besetzen. Man bat um eine Flugverbotszone. Aber nichts geschah.
Moskau hatte die völkerrechtlich verankerten Regeln in Sachen Sicherheit von Atomanlagen in eklatanter Weise verletzt. Deshalb hätte die IAEA, die internationale Atomenergieagentur, die in das System der Uno eingebunden ist, angemessen reagieren müssen. Doch auch hier wurde die Ukraine enttäuscht.
Keine Konsequenzen für Moskau
IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi äusserte lediglich ernste Besorgnis und rief zur Zurückhaltung auf – versäumte aber, Russland als den Aggressor zu benennen. Konsequenzen für Moskau? Keine.
Entfernt die Russen aus der IAEA, nehmt kein Geld von Russland mehr an.
Geld entscheide alles, sagt Nosovski. Der zweitwichtigste Geldgeber der IAEA sei Russland. Und der stellvertretende Generaldirektor ist Russe. Nosovski schreibt Briefe, gibt Interviews, in denen er fordert: «Entfernt die Russen aus der IAEA, nehmt kein Geld von Russland mehr an. Aber nichts geschieht.»
Von der IAEA war dazu keine Stellungnahme erhältlich. Ebenfalls kein Gehör in der Sache fand die frühere Schweizer Bundesrätin Simonetta Sommaruga, als sie im April 2022 von der IAEA forderte, dass der russische Vizedirektor bei Fragen der Sicherheit ukrainischer Atomkraftwerke in Ausstand tritt. Gemäss Medienberichten reagierte der IAEA-Generaldirektor mit der Antwort, alle Mitarbeitenden seiner Organisation unterstünden allein seiner Autorität.
Raketenüberflüge über Atomkraftwerke
Derweil geht der Krieg weiter. Er habe einen amerikanischen Wissenschaftler nach Tschernobyl geführt, erzählt Nosovski. Danach hätten sie vor einem Restaurant, am Rande der Sperrzone, Kaffee getrunken. Plötzlich seien drei Raketen tief über ihren Köpfen in Richtung Kiew geflogen.
Raketenüberflüge werden auch von den anderen Atomkraftwerken in der Ukraine gemeldet: vom russisch besetzten und inzwischen abgeschalteten AKW Saporischja, aber auch von den anderen drei, noch laufenden Anlagen unter Kontrolle der Ukraine. Saporischja befindet sich zudem in umkämpftem Gebiet. Nosovski macht sich grosse Sorgen, denn: Manche russische Waffen seien ungenau. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sie ein nukleares Objekt treffen könnten. Darauf müsse man gefasst sein.
Die Russen haben 80 Prozent unserer Thermalkraftwerke zerbombt, dasselbe gilt für die Wasserkraft. Wir leben nur noch von der Atomenergie.
Besonders gefährlich wäre es, wenn eine Rakete in eine laufende Anlage einschlagen würde – die Folgen wären verheerend. Deshalb müsste die Ukraine eigentlich all ihre noch laufenden Reaktoren sofort herunterfahren. Das ist aber nicht möglich: «Denn dann haben wir keinen Strom mehr. Die Russen haben 80 Prozent unserer Thermalkraftwerke zerbombt, dasselbe gilt für die Wasserkraft. Wir leben nur noch von der Atomenergie.»
Zurück in der Sperrzone von Tschernobyl. In der Stadt Pripjat, die 1970 in der Nähe des AKW für die Angestellten gebaut worden war, lebt heute niemand mehr. Der Geigerzähler piepst leise, der Wind rauscht in den hohen Pappeln, als wir über Scherben gehen, über Trümmer eingestürzter Gebäude, deren Ruinen von der wuchernden Vegetation verschluckt werden.
-
Bild 1 von 5. Der ehemalige Kulturpalast «Energetik» in Pripjat ist heute überwuchert. Bildquelle: srf / judith huber.
-
Bild 2 von 5. Die Stadt Pripjat wurde 1970 für die Angestellten des AKW gebaut. Bildquelle: srf / judith huber.
-
Bild 3 von 5. Anton Juchimenko führt durch die Sperrzone von Tschernobyl. Bildquelle: srf / judith huber.
-
Bild 4 von 5. Auf dem ehemaligen Rummelplatz von Pripjat steht noch immer das Riesenrad. Bildquelle: srf / judith huber.
-
Bild 5 von 5. Und auch das «Putschiauto» steht noch. Doch statt blinkenden Lämpchen und schriller Musik gibt es wucherndes Gras und Stille. Bildquelle: srf / judith huber.
Die Stadt wachse im Rekordtempo zu, sagt Anton Juchimenko. Besonders, seit wegen des Krieges keine Touristen mehr kommen könnten – denn die Russen haben die Sperrzone vermint, der Zugang ist nur noch in Ausnahmefällen möglich. Juchimenko sagt, die Strassen seien bald nicht mehr passierbar, die Vegetation könne sich ungestört ausbreiten.
Pripjat, einst Symbol für Fortschritt und Moderne, wird bald ganz verschwunden sein. Als wir etwas später beim Checkpoint die Sperrzone verlassen, beginnen die Sirenen zu heulen. Luftalarm, einmal mehr. Der Krieg, er ist auch in Tschernobyl sehr nah.