Zum Jahrestag der Revolution sind in Tunesien erneut tausende Menschen auf die Strassen gegangen, um gegen gestiegene Preise, die Arbeitslosigkeit und ein neues Finanzgesetz der Regierung zu protestieren. Über 800 Menschen wurden festgenommen. Vor allem im tunesischen Hinterland waren die Demonstrationen gewalttätig.
SRF News: Was läuft schief in Tunesien?
Beat Stauffer: Es läuft überhaupt nicht alles schief. Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren markant verbessert. Die wirtschaftlichen Prognosen sind gut, auch der Tourismus hat sich teilweise wieder erholt. Das Hauptproblem liegt darin, dass es in den letzten sieben Jahren zu einer Verarmung der breiten Bevölkerung gekommen ist – sie hat einen unglaublichen Kaufkraftverlust hinnehmen müssen.
Am meisten leiden die armen Regionen im Hinterland und die armen Vorstädte entlang der Küste. Dort ist auch die Arbeitslosigkeit gross. Bei diesen Menschen ist eigentlich alle Hoffnung verflogen, dass diese Revolution ihnen etwas bringen wird.
Protestieren nur die Menschen im Hinterland oder haben die Proteste inzwischen das ganze Land erfasst?
Man muss klar unterscheiden zwischen den Protesten in der Hauptstadt oder anderen grossen Städten und dem Hinterland. In den Küstenstädten sind es zivilisierte Proteste. Die Leute sind wütend über die Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage. Sie kämpfen gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Im Hinterland hingegen sind es junge wütende Männer, die nichts mehr zu verlieren haben. Viele gehören offenbar zu randständigen Gruppen, sind vermutlich manipuliert worden von obskuren Personen und Organisationen, das ist das ganz grosse Problem.
Nun haben die Leute das Gefühl, es sei kein Geld mehr für sie da und der Staat denke zu wenig an sie. Wo sind denn die Mittel geblieben?
Die sogenannte Troika-Regierung hat grosse Summen für Entschädigungszahlungen an Mitglieder der islamistischen Ennahda-Partei geleistet, die häufig auch im Gefängnis waren. Hinzu kommen grosse Ausgaben zur Terrorbekämpfung. Insgesamt sind so Milliardenbeträge für nicht produktive Bereiche ausgegeben worden. Deshalb fehlt jetzt dieses Geld.
Die tunesische Regierung hat nun versprochen, die Hilfsprogramme für die ärmste Schicht der Bevölkerung aufzustocken. Reicht das?
Die ärmsten Familien werden sicher dankbar sein. An der Wut der grossen Massen, vor allem von jungen Männern, ändern die Beiträge aber nichts.
Es ist schwierig internationale Hilfe zu bekommen. Warum erfährt Tunesien keine Hilfe aus den arabischen Ländern?
Die Finanzhilfen der EU und anderer arabischen Staaten in Milliardenhöhe ist längst aufgebraucht. Tunesien muss jetzt zu teilweise schlechten Bedingungen Kredite auf dem internationalen Finanzmarkt aufnehmen. Die reichen arabischen Staaten, etwa die Emirate und Saudi-Arabien, sind sehr zurückhaltend mit solchen Krediten. Laut Insidern soll das eine Strafaktion wegen der anhaltenden Unterstützung der Ennahda in der tunesischen Politik sein. Die Ennahda gehört ja zu den Muslimbrüdern, die Saudi-Arabien und die Emirate bekämpfen wollen.
Vor dem arabischen Frühling war Tunesien jahrzehntelang unter der Kontrolle eines strengen Regimes. In Bezug auf demokratische Strukturen steckt das Land ja noch in den Kinderschuhen. Müsste man der Regierung nicht einfach ein bisschen Zeit geben?
Dieses Argument ist teilweise richtig. So argumentiert auch Premierminister Youssef Chahed. Dennoch laufen einige Dinge falsch. In Tunesien fand in den letzten Jahren eine Art Restauration statt, eine Rückkehr der alten Garde der Politiker aus der Zeit des Regimes von Ben Ali. Das führt zu einer grossen Frustration bei den jungen Leuten. Das politische Personal kümmert sich vor allem um seinen eigenen Vorteil, statt um das Wohl des Landes. Für die Menschen, welche die Revolution vor sieben Jahren angestossen haben, wurde praktisch nichts gemacht. Sie wollen von der Politik nichts mehr wissen. Das ist eine schwere Hypothek für die Zukunft des Landes.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.