Unsere Maschine fliegt eine letzte Kurve, unter uns glitzert die Mündung des Yalu-Flusses. Aus dem Flugzeugfenster geniesse ich jetzt freien Blick auf die andere Flussseite: Bräunliche, hügelige Einöde, gespickt mit ein paar vereinzelten Siedlungen, an den Schattenhängen glitzern ein paar Fetzen Schnee in der Abendsonne: Das ist also Nordkorea.
Der Kontrast könnte kaum grösser sein. Auf unserer Seite ragen Fabrikschlote in den hellblauen Winterhimmel, Hafenkräne reihen sich dem Ufer entlang, mehrspurige Strassen winden sich durch eine dicht überbaute Landschaft: Das ist China. Wenige Minuten später landen wir am nagelneuen Flughafen von Dandong. Die Grenzerfahrung kann beginnen.
Zweifelhafter Ruf
«Sind Sie Journalisten?» entlarvt uns der Taxifahrer gleich in der ersten Minute unserer Fahrt in Richtung Stadtzentrum. Ausländische Touristen gäbe es hier keine, dafür umso mehr Journalisten aus aller Welt, spöttelt er, wir bräuchten uns nicht länger zu verstellen. Und: Er hätte gute Kontakte und wisse, wie man unerkannt auf dem Fluss hinüber nach Nordkorea fahren könne. Wir lassen uns erst einmal zum Hotel fahren, um unsere Pläne für die nächsten Tage zu schmieden.
China teilt 1420 Kilometer Grenze mit Nordkorea. Die Stadt Dandong bildet dabei das wichtigste Tor zur abgeschotteten Diktatur. Vor einem knappen Jahrzehnt hatte Chinas Regierung hier grosse Pläne. Die Investitionen, die damals flossen, ziehen als Bauruinen an uns vorbei: Stillgelegte Fabriken, leerstehende Hochhäuser mit Blick auf Nordkorea, eine funkelnd weisse Hängebrücke, über die noch nie ein Auto nach Nordkorea gefahren ist. Die Sanktionen haben die Aufschwungspläne im Keim erstickt. Der Taxifahrer flucht. Nichts sei mehr los hier in Dandong. Die Wirtschaft liege am Boden.
Wir fahren vorbei an einer Raffinerie. Hier soll angeblich Öl für Nordkorea raffiniert werden. Doch es scheint, als würde da nicht mehr allzu viel laufen. Der Taxifahrer gibt sich wortkarg. So richtig traut er uns noch nicht über den Weg, doch das beruht auf Gegenseitigkeit. Mehrfach wurde ich gewarnt, von Journalisten, die schon im Grenzgebiet herumgestreift waren. Sie alle waren sich einig: Es sei schwierig. Die Leute in der Region seien verschlossen. Die Grenzstadt, die einzig und allein vom blühenden Schwarzhandel mit Nordkorea lebt, geniesst einen zweifelhaften Ruf. Man will nicht über die tausenden Nordkoreaner reden, die in den Textilfabriken der Region als moderne Sklaven für chinesische Patrons schuften, viele Themen bleiben in der Welt der Gerüchte.
Bloss nicht auffallen
Und plötzlich liegt sie vor uns: Die berühmte Stahlbogenbrücke von Dandong: Das Nadelöhr nach Nordkorea, die Arterie der Apparatschiks von Pjöngjang, die Versorgungslinie der Kims.
Unser Taxifahrer hat uns erfolgreich überzeugt, dass er die nächsten Tage unser Fahrer, Guide und Mittelsmann in einem sei. Sein Honorar haben wir heruntergehandelt, es übertrifft aber dennoch die Gehälter der lokalen Fabrikarbeiter ums Dreifache. Uns wird schnell klar: In Dandong herrschen eigene Gesetze. Wer hier nicht in Schwierigkeiten geraten will, passt sich an, das gilt besonders an unserem zweiten Tag im Grenzgebiet zu Nordkorea.
Nicht auffallen, lautet die Devise. Wir sind einige Kilometer flussaufwärts gefahren, vorbei an restaurierten Ausläufern der Chinesischen Mauer, vorbei an Kontrollposten der chinesischen Volksbefreiungsarmee, unsere Kameras stets verdeckt. Der Fahrer hat uns ein Boot organisiert.
Es soll uns ins Niemandsland zwischen Nordkorea und China bringen. Auge in Auge würden wir da sein, mit den nordkoreanischen Grenzsoldaten, versprach er uns. Ähnliche Flusstouren kann man auch in der Stadt als Touristenattraktion buchen, allerdings nur, wenn man keine Fernsehkameras dabei hat und Besitzer eines chinesischen Reisepasses ist. Beides spricht gegen uns.
Die Temperatur liegt knapp über dem Gefrierpunkt. Die dicken chinesischen Militärmäntel, die uns der Fahrer organisiert hat, sollten eigentlich der Tarnung dienen, doch noch besser trotzen sie jetzt dem peitschenden Wind, der uns ins Gesicht schlägt. Mit voller Kraft brettern wir über den eiskalten Yalu-Fluss, direkt aufs nordkoreanische Ufer zu. «Runter! Runter mit der Kamera», ruft der Bootsfahrer in einem Chinesisch mit starkem koreanischem Akzent.
Er gehört einer Minderheit an, die schon hier lebte, bevor die heutigen Grenzen gezogen wurden: Die koreanischen Chinesen. Sie vereinfachen den Flüchtlingen, die es immer mal wieder über die poröse Grenze nach China schaffen den Einstieg. Sie sprechen nicht nur die gleiche Sprache, sondern viele fühlen sich den Nordkoreanern nahe. Auch unser Bootsfahrer treibt das Mitleid. Und uns treibt dies die Angst in die Knochen.
Zigaretten und Kalaschnikow
Der Uniformierte ist jetzt nur noch eine Bootslänge von uns entfernt. Wir können die Dampfwolke seines Atems sehen. Über seiner rechten Schulter baumelt ein Gewehr. Es ist eine Kalaschnikow. Wohl eine der Millionen Kalaschnikows, die Nordkorea selber baut und angeblich über verflochtene Kanäle auch in die Kriegsgebiete dieser Welt verkauft. Je länger ich hier bin, umso klarer wird mir, wie gross der Schwarzhandel hier sein muss.
Der Nordkoreanische Wachtposten ruft unserem Fahrer etwas zu. Sie unterhalten sich auf Koreanisch. Ihre Stimmen werden von der klirrenden Kälte verschluckt. «Habt ihr Zigaretten?» fragt mich unser Bootsfahrer plötzlich auf Chinesisch. Zum Glück ist unser Taxifahrer auch mit auf dem Boot. Er ist Kettenraucher und hilft uns aus der Patsche. Schon fliegt das rote Paket ans Ufer. Der Wachmann fängt es auf und ruft eines der wenigen auch mir bekannten koreanischen Wörter in unsere Richtung: «Kamsahamnida...» Danke schön. Danke auch, denke ich, danke, dass alles nochmals gut gegangen ist. Er zündet sich eine Zigarette an und wendet sich rauchend ab. Unser Bootsfahrer gibt wieder Gas.
Gesprächige Service-Angestellte
Es ist Abend. Die Stahlbogenbrücke funkelt in Blau und Rot. Die chinesischen Hochhäuser entlang der Uferpromenade strahlen um die Wette. Dandong ist in Hochform. Auf der anderen Flussseite klafft ein schwarzes Loch. Kaum irgendwo kann man die Unterschiede der beiden Nachbarn bildhafter sehen als hier in Dandong.
90 Prozent allen Handels von Nordkorea zwängt sich durch Dandong und die umliegende Region. Unser Fahrer hat uns das beste nordkoreanische Lokal der Stadt empfohlen. Es sei eines der letzten, das den Sanktionen noch trotze. Das zehnstöckige Gebäude befindet sich gleich neben der Brücke, einen Steinwurf entfernt vom Zollgebäude, das täglich Hunderte von schwerbeladenen Sattelschleppern abfertigt. Bis vor Kurzem befand sich darin auch das nordkoreanische Konsulat. Dieses sei jetzt umgezogen, erzählt man uns später.
Zu viert sitzen wir in einem Raum, der Platz bieten würde für mindestens achtzig Leute. Der Betreiber des Restaurants ist der nordkoreanische Staat. Das Lokal gehört zu einem weltweit verzweigten Netzwerk von nordkoreanischen Restaurants und soll offiziell der Völkerverständigung dienen, wie uns die freundliche Bedienung auf Chinesisch erklärt. Inoffiziell dient es als Geldmaschine fürs Regime in Pjöngjang.
Als ihre Kollegin für ein paar Minuten den Raum verlässt, wird die Dame im pinkfarbenen traditionellen Kostüm gesprächig. Ihr Grossvater hätte in Deutschland studiert, verrät sie uns. Er sei Diplomat gewesen zu DDR-Zeiten. Sie selber arbeitet jetzt in China, offiziell ist sie angestellt als Service-Fachfrau. Inoffiziell ist sie ein Sklave der nordkoreanischen Diktatur. Sieben Tage die Woche arbeitet sie, zweimal im Monat hat sie ein Wochenende frei.
Das Gebäude verlässt sie nur unter Aufsicht, der Lohn fliesst direkt in die Staatskassen Nordkoreas. Der Kimchi den wir aufgetischt bekommen liegt schwer im Magen und vermengt sich mit der nordkoreanischen Volklore, die wir geboten bekommen zu einem trügerischen Cocktail. Es ist Zeit zu gehen. Die Kollegin der Nordkoreanerin ist längst zurück, energisch redet sie auf die gesprächige Service-Frau ein. Vielleicht war sie etwas zu offenherzig mit uns Ausländern. Wir werden es nie erfahren.
Sendebezug: SRF Jahresrückblick, 22.12.2017