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Urteil gegen Putinkritiker Nawalny der Grosse – dank des Kremls

Es gibt Sätze, die werden zu Zeitgeschichte im Moment, in dem sie einer ausspricht. Das hier ist so ein Satz: «Wissen Sie, es gab den Zaren Alexander den Befreier, es gab Jaroslawl den Weisen – und es gibt Wladimir den Unterhosen-Vergifter.»

Den Satz hat Alexej Nawalny heute vor Gericht gesagt – vor jenem Gericht, das ihn wenig später für über 2.5 Jahre hinter Gitter schickte. Begründung: Nawalny habe sich nicht an Bewährungsauflagen gehalten. Er hätte sich wegen einer bedingten Gefängnisstrafe regelmässig bei den Behörden melden sollen, tat dies aber nicht.

Um Gerechtigkeit ging es vor Gericht nicht

Diese Begründung ist nur vorgeschoben: Das ursprüngliche Urteil war 2017 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als «willkürlich» gerügt worden. Der russische Staat bezahlte Nawalny darauf sogar eine Entschädigung.

Es ist offenkundig: Es ging heute vor Gericht nicht um Gerechtigkeit, es ging um die Geschichte mit Nawalnys Unterhosen. Oder anders gesagt: Es ging um Politik. Nawalny ist im vergangenen Sommer mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden – und überlebte nur knapp. Recherchen eines internationalen Journalistennetzwerks zeigen: Hinter der Tat steckten mutmasslich Agenten des russischen Geheimdienstes FSB.

Persönliche Beschuldigung von Wladimir Putin

Sie sollen das Gift auf die Unterhosen des Oppositionspolitikers getröpfelt haben. Kaum vorstellbar, dass der Kreml nichts von dem Anschlag wusste. Nawalny jedenfalls beschuldigt Wladimir Putin persönlich – eben: «Wladimir den Unterhosen-Vergifter».

Der heutige Gerichtsentscheid zeigt, mit welcher Gnadenlosigkeit der Kreml den Oppositionellen Nawalny verfolgt. Dabei ist nicht nur der Politiker selbst Ziel – auch die meisten seiner engen Vertrauten sitzen in Haft. Dieser enorme Druck hat Nawalny jedoch nicht klein, sondern gross gemacht.

Nawalny ist nun zum Helden geworden

Noch vor einem Jahr war er einer von vielen Kreml-Gegnern. Viele Russinnen und Russen – gerade aus der Intelligenzia – mochten ihn nicht, sie hielten in für grossmäulig, selbstverliebt, für einen Populisten obendrein. Aber jetzt ist er ein Held. In Russland gibt es derzeit wohl nur zwei gänzlich unabhängige Politiker: Wladimir Putin – und: Alexej Nawalny.

Seine Furchtlosigkeit, sein Mut, seine Respektlosigkeit gegenüber den Mächtigen: Das imponiert vielen. Nawalny stellt sich gegen das System mit allem, was er hat: sogar mit seinem Leben. Es ist eine waghalsige Strategie, denn der russische Staat ist stark. Über 5500 Personen wurden allein am letzten Sonntag festgenommen, weil sie demonstrierten. Der Machtapparat zeigt sich geschlossener denn je: Kein einziger Parlamentarier, kein Gouverneur, kein Minister – niemand stellt die Politik des Kremls infrage. Alle schweigen.

Viele würden an so viel Druck zerbrechen

Nawalny dagegen hat keinen Apparat: keine Richter oder Polizisten. Er hat auch kein Geld. Nicht mal mehr seine Freiheit hat er. Aber er hat das Wort. Ins dröhnende Schweigen hinein spricht er von seinen Unterhosen, auf die gedungene, mutmasslich staatliche Mörder Gift strichen.

Kann gut sein, dass Nawalny länger als 2.5 Jahre hinter Gittern bleibt. Weitere Strafverfahren gegen ihn sind in Vorbereitung. Viele andere würden an so viel Druck zerbrechen. Er dagegen sagte heute vor Gericht: «Ich kämpfe und ich werde weiterkämpfen.» Es wirkt fast, als würde er in übermenschlichen, in historischen Massstäben denken. Eben: Nawalny der Grosse.

SRF 4 News, 2.2.2021, 19 Uhr

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