- Die Welt braucht eine Führungsmacht – ohne Führung gibt es weltweit mehr Chaos und mehr Gewalt. Davon ist Harvard-Professor Joseph Nye fest überzeugt.
- Die Führungsrolle aber könnten derzeit einzig die USA ausfüllen – allenfalls zusammen mit China.
- Umso besorgter ist Nye, dass Washington zurzeit ausserstande scheint, der Führungsaufgabe gerecht zu werden.
Gerne ginge Joseph Nye häufiger zum Fliegenfischen. Nichts lenkt ihn besser ab von den Widerwärtigkeiten der Politik, als Lachse und Forellen in einem Bergbach. Doch weil die internationale Politik zurzeit in Aufruhr ist, findet der drahtige, alerte 80-Jährige kaum noch Zeit für sein Hobby.
Er lehrt weiter in Harvard, er publiziert und berät. Der Professor und Ex-US-Vizeaussenminister, der früher den Nationalen Rat der US-Geheimdienste und die Abteilung für nukleare Abrüstung im Aussenministerium leitete, steht nach wie vor im Rampenlicht.
Umringt von Autogrammjägern
Das äussert sich etwa darin, dass er, kaum betritt er das Foyer des renommierten Graduate Institute in Genf, umringt ist von Studenten, die ein Autogramm wollen. Das passiert weltweit nicht vielen Politologieprofessoren. Es können auch nicht viele behaupten, dass bei ihnen gleich Hunderte von einflussreichen Politikern und Spitzendiplomaten in die Lehre gingen.
Genauso wie die spanische und die britische Dominanz zu Ende gingen, wird auch jene der USA enden.
Zurzeit treibt Joseph Nye die Frage um: Erleben wir das Ende der amerikanischen Weltordnung? «Nichts währt ewig», sagt er. «Genauso wie die spanische und die britische Dominanz zu Ende gingen, wird auch jene der USA enden. Allerdings ist es für das natürliche Ende der USA eigentlich noch zu früh.»
Wirtschaftlich und militärisch nach wie vor überlegen
Die US-Wirtschaft sei immer noch deutlich grösser als die chinesische, die militärische Überlegenheit enorm. Und in der Informatik, der Nanotechnologie, der Biotechnologie, bei der universitären Ausbildung – also da, wo es zähle – liessen die Vereinigten Staaten China weit hinter sich.
Abstieg und Rückzug der USA sei also selbst verschuldet. Es handle sich um eine Wunde, die sich die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump selber zufügten. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, als die USA der Welt abrupt den Rücken zuwandten und zum Trittbrettfahrer wurden. Das ermöglichte überhaupt erst den Aufstieg von Nazi-Deutschland.
Trumps Gebell ist bisher schlimmer als sein Biss.
Fragt sich: Ist Trump in wenigen Jahren bloss noch eine Fussnote der Geschichte? Oder steht er für einen Trend, der die US-Aussenpolitik noch lange prägt? Nye neigt zur Variante Fussnote. «Sein Gebell ist bislang schlimmer als sein Beissen», sagt er. Vieles, was Trump angekündigt habe, habe er bereits wieder verworfen.
Dennoch bleibe die Unberechenbarkeit. Das mache die Welt instabiler. «Der Himmel fällt uns zwar nicht gleich auf den Kopf, aber die politische Weltwetterlage ist stürmisch», beschreibt Nye die aktuelle Situation. Das Problem: Wenn die USA als Führungsmacht ausfallen, tritt nicht einfach eine andere Supermacht in deren Fussstapfen und sorgt für eine geopolitische Stabilisierung.
China unattraktiv für den Westen
«Zwar zeigt China Ambitionen, es ist aber noch längere Zeit nicht dazu imstande», so der Professor. Was China neben schierer Macht an Werten und Prinzipien biete, sei zwar für autokratische Regime attraktiv, nicht aber für den Rest der Welt.
Sollte China dereinst die Weltordnung prägen, dann wäre das sicher keine liberale Weltordnung.
«Sollte China dereinst die Weltordnung prägen, dann wäre das sicher keine liberale Weltordnung», ist Nye überzeugt. Attraktiver und realistischer erscheint Joseph Nye eine andere Vorstellung: Dass nämlich die USA und China zusammenspannen und sozusagen eine Doppelführung in der globalen Politik und Wirtschaft übernehmen.
Gemeinsame Leadership
Dies habe etwa beim Pariser Klimaabkommen geklappt, als die beiden Mächte diese Führerschaft übernommen hätten. Dabei wurden sie von vielen anderen Staaten unterstützt. Wenn das auch in anderen zentralen Frage gelänge, trotz der sehr unterschiedlichen Systeme, trüge es enorm zur Stabilisierung der Welt bei, glaubt Nye. Dies würde helfen, die grossen Herausforderungen von der Armutsbekämpfung über den Kampf gegen den Terrorismus bis zum Klimaschutz anzugehen.
Ohne dominierende Mächte herrscht Chaos.
Die Geschichte zeige klar: «Ohne dominierende Mächte herrscht Chaos», wie etwa seinerzeit im Dreissigjährigen Krieg. Damit ein Supermacht-Duopol USA-China Akzeptanz finde, brauche es allerdings breite Allianzen. «Das Ziel darf nicht sein, Macht über andere auszuüben. Das Ziel muss sein, mit anderen zusammen Macht zu entfalten.»
Noch habe das der neue Herr im Weissen Haus nicht begriffen – und möglicherweise auch nicht die Führung in Peking, bedauert der «Grand Old Man» der amerikanischen Politikwissenschaft.