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Jeronim Perovic,
Legende: Jeronim Perovic ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Uni Zürich. SRF

Verhältnis Russland-Westen «Typischerweise wird Russland als Opfer dargestellt»

Der Westen sei Russland so feindlich gestimmt wie nie zuvor, sagt der russische Aussenminister Sergej Lawrow in einem Interview mit der russischen Zeitung «Kommersant». Hat Lawrow Recht? Der Historiker Jeronim Perovic ordnet ein.

SRF News: Stimmt Lawrows Aussage?

Jeronim Perovic: Wenn er damit die neuere Geschichte Russlands seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 meint, dann hat er recht. Noch nie war das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen so angespannt wie jetzt. Wenn wir aber die Zeit des Kalten Krieges mitrechnen, stimmt die Aussage historisch gesehen nicht.

Es gab also Zeiten, während denen der Westen Russland mindestens ebenso feindlich gesinnt war wie heute?

Ja, die 1950-er und 1960-er Jahre waren eine äusserst düstere Zeit mit Stellvertreterkriegen in Korea und Vietnam. 1962 wäre es im Fall der Kubakrise fast zum Fall einer nuklearen Konfrontation gekommen und nach dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 in Afghanistan war das Verhältnis so schlecht, dass die USA und viele westliche Staaten die olympischen Spiele in Moskau 1980 boykottierten.

Auch heute sind die Olympischen Spiele ein Thema. Aussenminister Lawrow kritisierte die Entscheidung des IOC, russische Sportler für die Spiele zu sperren. Was erhofft sich Lawrow davon?

Streng genommen handelt es sich nicht um eine Position des Westens, sondern um eine Entscheidung des IOC, einer internationalen Organisation. Es ist symptomatisch für die Haltung der Russen, dies zu ignorieren, alle Fakten abzulehnen und dies als feindliche westliche Politik zu deuten.

Lawrow sieht in den Sanktionen einen Beleg, dass der Westen Russland böse gesinnt ist und dass der Westen an guten Beziehungen zu Russland nicht interessiert ist.

Deshalb kommt die Aussage ja auch von Lawrow, dem Aussenminister. Er bringt seinen ganzen Unmut über die westliche Politik, insbesondere über die westlichen Sanktionen seit 2014 zum Ausdruck. Gleichzeitig sendet er aber auch ein Signal nach innen. Er sieht daran einen Beleg, dass der Westen Russland böse gesinnt ist und dass der Westen an guten Beziehungen zu Russland nicht interessiert ist. Und so rechtfertigt er auch die Politik des Kremls, die den Westen als Feindbild zeichnet.

Ist der Ton zwischen dem Westen und Russland schärfer geworden?

Es gibt viele Leute, die von einem neuen Kalten Krieg sprechen. Das stimmt nur bedingt, denn es ist keine ideologische Konfrontation zwischen Kommunismus und Kapitalismus, es ist kein globaler Wettstreit. Russland hat die Ressourcen dafür gar nicht. Aber es ist beängstigend, dass sich die Rhetorik stark der Rhetorik des kalten Krieges angeglichen hat. Leider ist das nicht nur ein Symptom, das wir in Russland feststellen, sondern auch in den USA. Das hat damit zu tun, dass die USA viel weniger stark mit Russland verbunden ist als zum Beispiel Europa.

Europa ist mehr daran interessiert, dass sich das Verhältnis wieder normalisiert.

Aus Europa hören wir eher sanftere Töne. Sie sind mehr daran interessiert, dass sich das Verhältnis wieder normalisiert.

Kann man zusammenfassend sagen, dass die Aussagen von Lawrow vor allem ein innenpolitisches Signal sind und weniger eine Deutung der Geschichte zwischen Russland und dem Westen?

Es erscheint schon fast wie eine Verschwörung, eine Verschwörung äusserer Feinde gegen Russland und natürlich auch potentieller innerer Feinde, die vom Westen gesteuert werden. Typischerweise wird Russland immer als Opfer dargestellt. Dabei hat sich Russland, was diesen Dopingskandal angeht, selbst in diese Situation gebracht.

Das Gespräch führte Noëmi Ackermann.

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