Im afghanischen Bürgerkrieg Anfang der 1990er-Jahre nahm Pakistan etwa 2,5 Millionen afghanische Flüchtlinge auf. In Pakistan befand sich seither die grösste afghanische Diaspora. Nun ist aber Schluss mit der humanitären Tradition: Viele der damals geflohenen Afghanen und ihre Nachkommen müssen zurück in ein Land, das sie nicht kennen.
Nur eine Kindheitserinnerung
Die Menschen sitzen auf Lastwagen auf ihren Habseligkeiten, sind stundenlang durch den Staub gefahren, von Peschawar aus über die Grenze nach Jalalabad und Kabul. Zahir Rudin ist einer von ihnen: «Sie werfen uns aus dem Land», sagt der 30-Jährige, für den Afghanistan nur eine schwache Kindheitserinnerung ist.
Die Beziehung der beiden Länder verschlechterte sich im letzten Sommer, nachdem Taliban-Führer Mullah Achtar Mansur von einer US-Drohne in Pakistan getötet wurde , nicht weit vom umstrittenen Grenzübergang von Torkham entfernt. Dieser dient als Schlupfloch für die Taliban, ist aber auch eine wichtige Handelsroute für die Exil-Afghanen.
Pakistan schloss vorübergehend die Grenze, riss Häuser ab, um einen Zaun zu errichten. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Im Juni kam es während einer Woche zu Gefechten, seither werden Afghanen ohne gültigen Ausweis von Pakistan ausgewiesen. Etwa 5000 von ihnen passieren das UNHCR-Lager von Kabul täglich.
Wir konnten dort nicht mehr frei leben. Wir wurden konstant von der pakistanischen Polizei schikaniert, sogar unsere Flüchtlingsausweise ignorierten sie.
In den Baracken des Durchgangslagers erhalten die Vertriebenen eine Schnellbleiche in Hygiene und der Gefahr von Landminen. Auch medizinische Versorgung und eine finanzielle Starthilfe von 400 Dollar pro Person erhalten sie.
In zwanzig Minuten werden sie durchgeschleust, mehr Zeit bleibt nicht, sagt Maya Ameratunga, die Länderverantwortliche für das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR: «Allein seit Juli sind über eine halbe Million Menschen von Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, da bleibt für jeden Einzelnen nicht viel Zeit.»
Doch die Pakistan-Rückkehrer sind nur ein Teil der ganzen Flüchtlingskrise in Afghanistan: «Zu ihnen gesellen sich über 1,2 Millionen Menschen, die durch die Kämpfe in Afghanistan selbst vertrieben wurden, 300‘000 allein dieses Jahr», so Ameratunga. Bald werden es insgesamt zwei Millionen Vertriebene in Afghanistan sein.
Die Flüchtlingskrise kommt zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, denn die Regierung ist in internen Grabenkämpfen blockiert, unfähig schnell zu reagieren. Zudem steht der kalte afghanische Winter vor der Tür. Die Menschen im UNHCR-Lager sind verzweifelt. Die meisten von ihnen werden wohl in den Städten Kabul oder Jalalabad bleiben, auf jeden Fall während des Winters.
Wir haben keine Häuser – und das Geld von der UNO reicht nicht, damit wie eine neue Existenz aufbauen können.
Pakistan spielt die Karte der Flüchtlinge gezielt auf den Winter, um die Regierung in Kabul zu destabilisieren. Nicht zuletzt spielt dabei auch eine Rolle, dass sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani seit dem Vorfall in Torkham mit Pakistans Erzfeind Indien angefreundet hat.
Im Sommer hatte Islamabad verkündet, dass die Aufenthaltsbewilligungen für afghanische Flüchtlinge nur noch bis Ende Jahr gültig seien. Auf internationalen Druck wurde die Frist um drei Monate verlängert. Dennoch ist der Flüchtlingsstrom zurück nach Afghanistan enorm angestiegen: Während im Juni noch gut tausend Afghanen zurückkehrten, waren es im Juli etwa 13'000, im August schon 70'000.
Flüchtlinge im eigenen Land
William Carter vom Norwegian Refugee Council spricht von einer umgekehrten Flüchtlingskrise: «Menschen, die nicht in Afghanistan geboren wurden, werden nun über die Grenze gezwungen. Auf dem Papier sind sie Bürger des eigenen Landes und gelten nicht mehr als Flüchtlinge, obwohl sie es tatsächlich sind.»
In Afghanistan geniessen sie keinerlei Schutz, auch können sie nicht mit Unterstützung von Hilfswerken rechnen. Dass sie aber just in Afghanistan Schutz benötigen, steht für Carter ausser Frage.
Noch nie war die Zahl der getöteten Zivilisten, die durch Bombenattentate oder Gefechte mit den Taliban ums Leben kamen, so hoch wie dieses Jahr: «Afghanistan ist kein sicheres Land, um zurückzukehren», sagt Carter.
Das wissen auch die Flüchtlinge. Viele haben Angst um ihre Familien. Auch wenn sie froh sind, wie sie sagen, wieder in der Heimat zu sein, wissen sie: Es ist nicht dieselbe Heimat, die sie damals verlassen haben. So bleibt ihnen nur noch die Hoffnung.
«Nur Gott wird uns Schützen, nicht die Armee, nicht die Regierung und auch nicht die internationalen Organisationen. Nur Gott entscheidet über uns», sagt ein älterer Mann, bevor er sich zitternd die Leiter zur Ladefläche eines Lastwagens emporhievt, auf dem er in eine ungewisse Zukunft reist.