Frankreich ist ein Atomland. Fast drei Viertel des Stromverbrauchs stammen aus der Kernenergie, die in insgesamt 19 Nuklearanlagen mit 58 Reaktoren entsteht. Die ersten beiden Atommeiler von Flamanville auf der normannischen Halbinsel Cotentin sind seit 2007 am Netz.
Bei Nummer 3 aber, dem neuen Druckwasserreaktor-Typ EPR, steckt der Wurm drin. Erst verzögerte sich der Baustart, dann wurden undichte Schweissnähte an den Dampfleitungen des Kühlwassersystems entdeckt. Um sie auszubessern, muss wahrscheinlich eine meterdicke Betonschicht abgetragen werden.
Offensichtlich mangelt es an qualifizierten Schweissern in diesem Land.
Dazu explodierten die Kosten, statt der geplanten 3 Milliarden Euro belaufen sie sich inzwischen auf über 12 Milliarden. Am Montag bezeichnete Wirtschaftsminister Bruno Le Maire Flamanville 3 ungewöhnlich deutlich als Schlappe: «Konstruktionsfehler an den Schweissnähten, an Druckleitungen des Reaktors, mangelnde Koordination zwischen den Zulieferern während des Baus – das ist inakzeptabel.»
Ein «Industrielle Katastrophe»
Als eine Verkettung multipler Fehler, gepaart mit einer realitätsfernen Planung und ungenügender Qualitätskontrolle bezeichnet es der unabhängige Experte für Nuklearenergie, Yves Marignac: «Es ist eine industrielle Katastrophe. Statt savoir-faire stellt Frankreich damit Inkompetenz und Unvermögen zur Schau.»
Über die Jahre sei viel technisches Know-How verloren gegangen. «Offensichtlich mangelt es an qualifizierten Schweissern in diesem Land.» Das Trauerspiel um den neuen Reaktor zeige, dass die französische Nuklearindustrie ausserstande sei, ein so grosses Projekt durchzuziehen.
Stromkonzern EDF am Pranger
Verantwortlich für Pleiten, Pech und Pannen an Flamanville 3 ist der staatliche Stromkonzern Electricité de France EDF. Generaldirektor Jean-Bernard Lévy gelobte öffentlich Besserung und will den von der Regierung verlangten Aktionsplan gegen die Missstände innerhalb eines Monats vorlegen.
Obwohl niemand garantieren kann, dass die Reparaturen gelingen und nicht noch andere Probleme auftauchen, plant die Regierung den Bau von 6 weiteren solcher Reaktoren. Laut Yves Marignac bleibe ihr auch gar nichts anderes übrig: «Um zu überleben hat die französische Atomindustrie dermassen auf den neuen EPR gesetzt, dass es keine andere Möglichkeit als die Flucht nach vorn gibt. Darum müssen weitere gebaut werden.»
Die absurde Argumentation im Stil von «Wir haben heute versagt, darum haben wir morgen Erfolg» könne allerdings ins Auge gehen.
An der längst überfälligen Schliessung des ältesten AKW Fessenheim im Elsass soll das Fiasko in Flamanville aber nichts ändern. Paris versichert, die beiden 1977 in Betrieb genommenen Atommeiler bis Ende Juni 2020 stillzulegen.