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International Vom indischen Bauerndorf zur Wirtschaftsmetropole

Vor drei Jahrzehnten war Gurgaon ein Bauerndorf südlich der Hauptstadt Neu-Delhi. Heute ist es die Finanzmetropole des Nordens mit mehr als 1,5 Millionen Einwohnern. Alle sind hier: Mercedes, Yahoo, Nestlé, Dior. Viele Bauern wurden über Nacht zu Multimillionären. Andere leben in Slums.

Gurgaons Entwicklung vom Bauerndorf zur Wirtschaftsmetropole begann Anfang der Achtzigerjahre mit einem Yogaguru, drei Flugzeugen, einem Stück Land und einem Bauern. Der Yogaguru hiess Dhirendra Brahmachari. Er unterrichtete Indiens Ministerpräsidentin Indira Gandhi in Leibes- und Atemübungen und war ihr Vertrauter – vielleicht sogar mehr.

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Ihm gehörten die Flugzeuge. Für sie brauchte er eine Landebahn und für seinen Yoga-Ashram ein Stück Land. Beides fand er 1982 in Gurgaon, einem damals noch verschlafenen Bauerndorf.

«Die Regierung zwang uns, Land an Brahmachari zu verkaufen. Er bezahlte mit seinem vielen Schwarzgeld. Was sollten wir tun? Er war Indira Gandhis Guru, und sie war die mächtigste Frau Indiens», sagt der 32-jährige Mukesh Sharma, dessen Vater dem Guru das Grundstück weit unter dessen Wert abtreten musste. Doch die Bauernfamilie besass noch weit mehr Land, Hunderte von Hektaren. Sie verkaufte es nach und nach an private Baufirmen. Heute sind die Bauern Multimillionäre.

Trotz Reichtum im schlichten Haus

1991 kam die wirtschaftliche Wende. Indien setzte auf mehr Privatisierung, mehr Öffnung und weniger staatliche Regulierung. Der Bauboom nahm ein ungeheures Ausmass an. Gurgaon ist heute ein Symbol für die Entwicklung Indiens – den Wirtschaftsboom, das Nebeneinander von Moderne und Chaos, Reichtum und Armut, Hoffnung und Enttäuschung.

«World Spa» heisst der Wohnkomplex, in dessen Schatten Mukeshs Haus heute steht. Das Haus ist schlicht und einstöckig mit einem Garten voller Auberginen. Leisten könnte sich die Familie zwar längst eine Villa – allein für das Land, auf dem World Spa steht, hat sie 25 Millionen Franken und 23 Eigentumswohnungen in der Siedlung bekommen.

Doch Mukeshs Mutter, eine behäbige Bäuerin, betrachtet die 16-stöckigen Wohntürme missbilligend: «Die da oben leben wie in einem Gefängnis. Noch nie habe ich jemanden auf dem Balkon stehen sehen. Ich brauche eine Brise, einen Garten und einen abendlichen Schwatz beim Dorftempel.»

Indien als Mikrokosmos

Anstelle eines Gemüsegartens gibt es im World Spa drei Pools. Partytime ist alle paar Monate. Der Alkohol fliesst, die Musik beschallt die Nachbarschaft bis spät in die Nacht. Die Bewohner plantschen beschwipst im Pool. Es sind Inder der neuen Oberschicht, die sich mit einer Wohnung in der Gated Community einen Traum erfüllt haben. Hier finden sie Luxus im Chaos: Fitnessklubs, Squashhallen, ein Café und einen Coiffeur-Salon. Generatoren überbrücken die vielen Stromunterbrüche.

Ashwani Singla ist vor zehn Jahren von Delhi nach Gurgaon gezogen, weil die Immobilien billiger waren. Er kaufte sich für eine halbe Million Franken eine 500 Quadratmeter grosse Wohnung.

World Spa ist für ihn eine selbstverwaltete Insel der Ruhe, Gurgaon ein Mikrokosmos: ganz Indien im Kleinformat. Um 1,2 Milliarden Indern ein besseres Leben zu bieten, seien zwei Dinge nötig: «Ausbildung und Arbeitsplätze. Dafür brauchen wir ein bestimmtes Wirtschaftswachstum und Städte wie Gurgaon. Hier werden die meisten Steuern des Gliedstaates generiert. Doch gebaut und unterhalten wird die Stadt von Arbeitsmigranten.»

Der Traum von mehr Wohlstand

Migranten wie Pratima Das, Mutter von zwei Kindern, geboren in einem Bauerndorf im weit entfernten Gliedstaat Westbengalen. Sechs Tage die Woche putzt sie von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends in vier Wohnungen von World Spa den Boden. Sie verdient 270 Franken im Monat. Eigentlich sei sie glücklich hier: «Einzig vor der Dunkelheit und den Geistern fürchte ich mich und ich habe Angst entführt zu werden. Manchmal vermisse ich die Weizen- und Kartoffelfelder meines Dorfes. Doch im Dorf gab es keine Arbeit, deshalb sind wir hierhergekommen, um Geld zu verdienen.»

Fast 200 Millionen Inderinnen und Inder, ein Sechstel der Bevölkerung, sind Migranten im eigenen Land. Der Sog der Städte ist stark. Pratimas Familie hoffte durch Fleiss zu Wohlstand zu kommen. Sie und ihr Mann arbeiteten in World Spa – doch dann, an einem Tag vor drei Jahren, stürzte ihr Mann beim Putzen einer Fensterscheibe vom ersten Stock in die Tiefe. Sein Rücken wurde schwer verletzt. Er hatte keine Krankenversicherung, keinen Lohn mehr und bald hohe Arztrechnungen. Heute arbeitet Pratima, um die Schulden abzustottern – mehr als Tausend Franken.

Der Stadt geht das Wasser aus

Auch die Stadt hat Probleme, ja sie ringt ums Überleben: Bis heute hat Gurgaon kein funktionierendes Abwassersystem. Die Strassen werden zwar ständig ausgebaut, aber das bringt mehr Staub, mehr Autos und noch grössere Luftverschmutzung. Im Winter liegt die Feinstaubbelastung bei Werten, die stark gesundheitsschädigend sind.

Doch das grösste Problem ist das Wasser. In den letzten Jahren sank der Wasserspiegel in Gurgaon wegen Übernutzung um einen Meter pro Jahr. Bis 2030 werde das Grundwasser aufgebraucht sein, warnen Experten.

Gute Tage für alle

Achhe din, gute Tage für alle, lautete das Wahlversprechen von Ministerpräsident Narendra Modi. In Gurgaon gibt es diese Tage vor allem für die, die sie sich leisten können. Bauer Mukesh Sharma gehört dazu.

Trotzdem ist er unglücklich: «Einige meiner Kollegen spielen jeden Abend Poker und verspielen so ihr ganzes Vermögen. Ich habe meines in Immobilien und neues Land weiter weg investiert und schicke meine Kinder auf teure Privatschulen. Jetzt sind wir satt, aber ich bin ständig gestresst, weil ich mich mit Mietern, Käufern und Behörden herumschlagen muss. Das Geld hat unseren Seelenfrieden zerstört.»

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