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Ukrainische EM-Stars
Aus Rundschau vom 01.06.2016.
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International Vom Schlachtfeld ins Stadion

Die Nationalmannschaft der Ukraine spielt an der EURO in Frankreich als Sturmspitze der nationalen Sache. Vereint für die Einheit des Landes: Die «Rundschau» ist unterwegs mit Spielern und Fans, die den Kampf der Armee gegen die Separatisten in der Ostukraine mit Wort und Tat unterstützen.

Beim Stande von 4 zu 0 für das eigene Team Dnjepr hat Walerij Schiwotow Zeit zum Philosophieren. «Vor 25 Jahren haben wir die Freiheit kampflos erhalten. Das hat vielen nicht gut getan und sie sind egoistisch und selbstsüchtig geworden», meint der 52-Jährige rückblickend auf das Ende der Sowjetunion 1991. Jetzt müsse die Ukraine für ihre Freiheit kämpfen. Das sei schmerzhaft, aber am Schluss werde das Land geeinigter und stärker dastehen als zuvor, glaubt er.

Wir sind im Fussball-Stadion der ostukrainischen Stadt Dnjepropetrowsk. Schiwotow gehört seit Sowjetzeiten zum harten Kern der Fans. Vor kurzem ist er von der ostukrainischen Kriegsfront zurückgekehrt. In der Region Lugansk war er als Freiwilliger bei der ukrainischen Nationalgarde. Funktion: Panzerabwehr. Es dürften tausende von ukrainischen Fussball-Fans sein, die in den letzten zwei Jahren im äussersten Osten des Landes im Kampfeinsatz standen.

Kampf für die Einheit der Ukraine

Als Ende 2013, anfangs 2014 Hunderttausende von Ukrainerinnen und Ukrainern für eine Ausrichtung des Landes nach Europa und gegen die Machtelite um Präsident Wiktor Janukowitsch demonstrierten, waren unter ihnen viele Fussball-Ultras aus dem ganzen Lande. Insbesondere nachdem sich Russland die Krim weggeschnappt hatte, und in den Regionen Lugansk und Donezk Russland-orientierte und vom Kreml unterstütze Demonstranten eine Trennung von der Ukraine wünschten, waren es die Fussball-Anhänger, die für eine einige Ukraine auftraten. Oft mit gemeinsamen Märschen beider Fan-Gruppen vor den Spielen.

Im April begannen dann die Separatisten in mehreren Städten im Donezkbecken, dem Donbas, zentrale Verwaltungsgebäude zu besetzen und dort die russischen Fahnen zu hissen. Proukrainische Gegner wurden teils entführt, manche gefoltert und ermordet. Dies als klare Botschaft, dass man hier die neuen prowestlichen Machthaber in Kiew nicht akzeptieren will.

Viele trauern noch der alten Sowjetunion nach

Ein Grossteil der Bevölkerung stand diesen Ereignissen passiv gegenüber. Aber die Stimmung war bereits vergiftet – auch durch die verlogene und aggressive Propaganda in den russischen Fernsehkanälen, die bei der meist russisch-sprachigen Bevölkerung im Donbas sehr populär sind. Die lokalen Sicherheitskräfte, Polizei und Geheimdienst, wehrten sich kaum, waren zu schwach oder wechselten sogar auf die Seite der Separatisten. Der ukrainische Staat und seine Institutionen – hier im Donbas waren sie 25 Jahre nach der Unabhängigkeit noch sehr schwach.

Auch weil viele Menschen hier diese Unabhängigkeit mental gar nicht wollten und bis heute der Sowjetunion nachtrauern, in der die Kohleminen- und Metallarbeiter noch als Helden galten und von entsprechenden Privilegien profitierten. Und genau das erhofften sich viele von einer Annäherung oder sogar von einem Anschluss an Russland. Allerdings zeigten noch im Frühjahr 2014 Umfragen, dass eine klare Mehrheit für die Erhaltung der unabhängigen Ukraine war – allerdings mit mehr Autonomie für die Regionen.

Fans im Krieg

Die Übergangsregierung in Kiew und insbesondere der im Mai 2014 im ersten Wahlgang gewählte Präsident Petro Poroschenko reagierten. Nachdem man die Krim kampflos an Russland verloren hatte, wollte man unbedingt die Abspaltung weiterer Teile des Landes im Osten verhindern. Es war der Anfang der sogenannten ATO – der «Anti-Terror-Operation». Die Armee, welche dabei eine zentrale Rolle spielen sollte, war in einem desolaten Zustand und machte eine schwache Figur.

Und das war der Moment der freiwilligen ukrainischen Kampfverbände. Die Kämpfer dieser teils nationalistischen Gruppierungen waren weit motivierter als die Soldaten der Armee. Und unter ihnen waren auch viele Fussball-Fans aus den Ultra-Sektoren der ukrainischen Stadien. Aus dem Fanblock von Dnjepropetrovsk seien bisher neun Männer an der Front ums Leben gekommen, erzählt uns Walerij Schiwotow auf der Tribüne. Im Stadion rufen sich derweil die Fans der beiden Teams nationalistische Parolen zu. Ruhm der Ukraine, Tod den Feinden und Ukraine über alles. Dieser Rausch für die Einheit der Nation soll an der Front auch zu Menschenrechtsverletzungen der ukrainischen Truppen geführt haben, beklagen Beobachter.

Der ukrainische Fussball ist derzeit aber ein Spiegelbild der Situation im Lande. Es fehlt an Geld, einzelne Clubs sind bereits pleite, und niemand weiss so recht, wie es weiter geht. Bedeutende Clubs wie Schachtjor Donezk haben ihre Heim-Basis verloren, weil dort jetzt die Separatisten das Zepter in der Hand halten und spielen in anderen ukrainische Städten. Langfristig kaum eine haltbare Situation.

Druck auf die Regierung in Kiew

Wirtschaftlich ist die Ukraine nach wie vor in einer tiefen Krise, die Menschen arm, die politischen Reformen kommen nur langsam voran und es droht, dass die verhassten Oligarchen durch ihre Marionetten in Parlament und Verwaltung wieder die Oberhand bekommen. Ein in letzter Zeit oft gehörter Vergleich sagt: Die Vertreter der ukrainischen Elite seien wie eingemachte Gurken. Man kann zwar immer wieder frische Gurken ins Glas legen – aber früher oder später werden alle sauer.

Vor allem von nationalistischen Kreisen, auch von den Kampfverbänden, ist zu hören, dass man bald «nach Kiew ziehen werde». Das verheisst nichts Gutes.

Der Konflikt im Osten, den eine Mehrheit der Ukrainer wohl zurecht als eine militärische Aggression Russlands sieht, ist zwar seit einem Jahr weniger intensiv. Aber fast jede Woche gibt es Tote. Insgesamt kamen bei den Auseinandersetzungen über Zehntausend Menschen ums Leben.

Starker Widerstand in der Ukraine

Eine politische Lösung scheint in weiter Ferne. Die Umsetzung der Minsker Abkommen ist praktisch zum Stillstand gekommen. Der Kreml pocht nach wie vor auf einen weitreichenden Autonomie-Status der separatistischen Gebiete – um über diese Regionen nachhaltig Einfluss auf die ukrainische Aussenpolitik nehmen zu könne. Kurz: Kiew soll am Gängelband Russlands bleiben und sich nicht einseitig nach Westen orientieren. Das ist der Hintergrund dafür, dass die von Russland mit Soldaten und Waffen unterstützten ukrainischen Separatisten über Monate hinweg auf ukrainische Stellungen schiessen – ohne wirklich an zusätzlichen Terraingewinnen interessiert zu sein.

Ein Fan und ein Mann in Kampfmontur inmitten von Rauchschwaden in einem Stadion.
Legende: Viele Fans aus den Fussballkurven schliessen sich den freiwilligen Kampfverbänden an. SRF

In der Ukraine ist aber der Widerstandswille nach wie vor stark genug, um politisch und militärisch entgegenzuhalten. Und mit einer Wirtschaftsblockade gegen die separatistischen Gebiete bringt Kiew wiederum Moskau in Zugzwang, diese Teile der Ukraine finanziell zu unterstützen.

Insofern mag Fussball-Fan Walerij Schiwotow recht haben, wenn er sagt, dass die russische Aggression den Zusammenhalt in der Ukraine gestärkt habe und die Gesellschaft nach Krieg und Krise gesünder, selbstbewusste und weit besser da stehen werde. Es gibt viele Menschen, die so denken in der Ukraine.

Lichtblick EURO

Abgesehen von der Frage, ob es dafür diese vielen Opfer gebraucht hat, bleibt auch noch offen, wie lange die Menschen in der Ukraine noch Geduld wahren. Die Unterstützung im Westen scheint jedenfalls zu bröckeln.

Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland haben zwar – zusammen mit dem Wehrwillen vieler Ukrainer – einen Zerfall des Landes verhindert, aber sie sind immer mehr umstritten. Viele Regierungen in Europa (mit Ländern wie Italien, Ungarn oder Österreich an der «Front-Linie») würden am liebsten lieber heute als morgen wieder den «courant normal» mit Russland. Etwas was die Schweiz übrigens mit feinen diplomatischen Finessen geschafft hat. Zum Beispiel damit, dass man zwar «Massnahmen» gegen Russland getroffen hat, aber eben keine Sanktionen und auch damit, dass man sich konsequent weigert, das militärische Eingreifen Russlands in der Ukraine offiziell als solches anzuprangern.

Das (Macht)-Spiel ist noch nicht vorbei

Nicht zuletzt sind aber gerade jene westlichen Politiker enttäuscht, die der Ukraine eigentlich gut gesinnt sind. Enttäuscht vom ukrainischen Präsidenten Poroschenko und der derzeitigen politischen Elite der Ukraine, die – auch unter Berücksichtigung der schwierigen Situation – weit weniger getan hat, als man von ihnen erwarten konnte und musste. Dass Poroschenko als neuen Generalstaatsanwalt einen seiner politischen Weggefährten, ohne juristische Ausbildung, einsetzen will, spricht Bände.

Das (Macht-)Spiel in der Ukraine ist also noch lange nicht vorbei – um im Fussballer-Jargon zu bleiben. Der Auftritt der ukrainischen Fussballnationalmannschaft an der Euro in Frankreich soll den Ukrainerinnen und Ukrainern freudige und sorgenfreie Momente bieten. Und Erinnerungen wecken an die eigene Euro, die die Ukrainer zusammen mit den Polen 2012 durchgeführt hatten. Trotz aller Befürchtungen hatten die Ukrainer damals das Turnier hervorragend über die Bühne gebracht. Viele Menschen im Lande waren damals sehr stolz darauf.

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