Die Lieferketten der Konsumgesellschaft sind seit Jahren konsequent auf Lastwagentransporte auf der Strasse ausgerichtet. Die Folgen sind unübersehbar: Überall staut sich der Strassengüterverkehr – auf Schnellstrassen gleichermassen wie in den städtischen Zentren.
Die Energiekrise, der Klimawandel und die Pflicht, auf fossile Treibstoffe zu verzichten, stellen die Logistikbranche unter einen veritablen Stresstest. Während die einen klagen, stellen andere alles auf den Kopf.
E-Bikes statt LKWs
Das lässt sich im Zentrum von Strassburg beobachten. Dort sind Diesel-Camions in der Fussgängerzone der historischen Altstadt nicht mehr erwünscht.
Darum wird nun alles per Schiff auf dem Kanalsystem der Stadt angeliefert und die letzten Meter mit dem Velo verteilt.
Ein Minikran hebt Palette auf den Bauch des kleinen Transportschiffs und stellt es auf das Quai am Fischmarkt im Zentrum von Strassburg. Bestimmungsort ist ein Supermarkt in der Fussgängerzone. Ein Mitarbeiter hebt die Kisten anschliessend mit dem Hubstapler auf den Gehsteig, der einige Meter höher liegt.
Mit ein paar Handgriffen baut anschliessend eine Velokurierin die Kiste um, in einen Anhänger mit Rädern, hängt diesen an ihr E-Bike und fährt los. Und schon beginnt das gleiche Spiel von vorne – mit der nächsten Ladung.
Ausgeliefert werden so Getränkekisten für Restaurants, Ersatzteile für einen Handwerksbetrieb, Bauteile für eine Baustelle, und Nachbestellungen für eine Detailhandelskette mit mehreren Läden im Stadtzentrum.
«Mit einer Schiffsladung können wir alle Warentypen ins Zentrum transportieren. Und auf dem letzten Kilometer liefern wir alles mit Bestimmungsort Altstadt mit unseren E-Bikes aus», erklärt Thomas Castan, der Gründer des Unternehmens Urban Logistik Solutions (ULS), welcher dieses Konzept entwickelt hat.
Alle sechs bis acht Minuten beginnt ein E-Bike mit der Auslieferung.
«Wir haben alle Prozesse optimiert. Alle sechs bis acht Minuten beginnt ein E-Bike mit der Auslieferung. Die effizienteste Liefertour berechnet eine spezielle Navigationssoftware. Wir bieten eine Gesamtlösung an.»
ULS ist ein Logistikunternehmen, spezialisiert auf Auslieferungen in städtischen Zentren, die an einem Fluss oder Kanal liegen. Angeliefert wird ausschliesslich per Schiff und feinverteilt per Velo. Dies übernehmen häufig Studierende im Stundenlohn, die sich so ihre Ausbildung finanzieren können. Angestellt sind sie aber von ULS.
Das Konzept hat André Nouyrigat überzeugt. Er ist der Logistikverantwortliche einer der grössten Mühlen Europas. Sie liegt am Stadtrand von Strassburg, im alten Rheinhafen. Dort werden jeden Tag bis 1200 Tonnen Korn gemahlen. Beliefert werden Kunden in ganz Frankreich und auch im grenznahen Deutschland. Und natürlich werden auch Bäckereien gleich vor der Tür beliefert, im Zentrum von Strassburg.
Mittelalter-Lieferkette reloaded
Bisher erfolgte das ausschliesslich mit Lastwagen, gesteht André Nouyrigat von den Grands Moulins de Strasbourg. Seit diesem Jahr ist alles anders. «Früher waren für uns zwei bis drei Lieferwagen den ganzen Tag hindurch im Zentrum unterwegs. Heute liefern wir unsere Mehlmischungen an die 20 Bäckereien im Zentrum per Schiff und Velokurier, jeweils vormittags, jeden Tag, von Montag bis Samstag.
Geliefert wird täglich, weil auf diesem Weg bloss kleinere Mengen transportiert werden können: 250 Kilo Mehl pro Veloanhänger und nicht eine Tonne per Lieferwagen, so André Nouyrigat. Der Bestellprozess erforderte ein paar Anpassungen. Aber schon nach wenigen Wochen habe sich alles bestens eingespielt.
Eigentlich beliefern wir unsere Kunden in der Stadt heute einfach wieder so, wie das schon unsere Vorfahren taten.
Die Mühle von Strassburg liegt in unmittelbarer Nähe zum Lagerhaus von ULS, von wo aus auf den Wasserstrassen Lastschiffe ins Zentrum fahren. «Eigentlich beliefern wir unsere Kunden in der Stadt heute einfach wieder so, wie das schon unsere Vorfahren in früheren Zeiten taten, nämlich mit einem Kahn auf dem Wasser. Das verlangte etwas Anpassung, funktioniert aber hervorragend. Der Bäcker bestellt und wir liefern am Folgetag», erzählt André Nouyrigat mit einem Lachen im Gesicht.
Druck aus der Politik
Ganz freiwillig erfolgte die Umstellung allerdings nicht. Die Politik spurte entscheidend vor. Die Stadtregierung von Strassburg erklärte die Innenstadt als eine Zone, die bis in ein paar Jahren keine CO₂-Emissionen mehr ausstossen darf. Das verlangte Umdenken von allen Beteiligten, vor allem von den zahlreichen Lieferanten für Hotels, Restaurants oder Läden, aber auch für Private. Da kommt ULS wie gerufen.
ULS könne hier die Stärke seines Transportkonzeptes voll ausspielen, so Thomas Castan. Ein Schiff und eine Handvoll Elektrovelos können bis zu 150 Lieferwagen ersetzen.
Viele Städte liegen an Flussläufen. Auf dem Schiff lassen sich grosse Gütermengen direkt ins Zentrum transportieren. Nach Strassburg bietet ULS seit kurzem seine Dienste nun auch in der Grossregion Lyon an. Das Unternehmen ist eine Kooperation mit dem grössten Logistikkonzern Frankreichs, Geodis, eingegangen, das weltweit für Kunden Waren bis vor die Haustür transportiert.
Die Transportlösung von ULS hat grosses Potenzial. Darum expandiert das Unternehmen rasch. «Viele Städte wurden ja nicht zufällig an Flussläufen gegründet. Das kommt uns heute zugute», so Thomas Castan. Der Gründer von ULS glaubt an eine grosse Zukunft der Binnenschifffahrt als Gütertransportlösung vom Meer bis fast vor die Haustüren in städtischen Zentren.
ULS unterscheidet sich entscheidend von anderen Logistikanbietern oder einem klassischen Velokurierdienst. Viele dieser Nischenanbieter haben sich auf die Auslieferung von bestimmen Warentypen spezialisiert, vor allem Kleinpakete oder Postlieferungen. ULS macht das Gegenteil.
«In diesem Geschäft gibt es keine zweite Chance. Wer bestehen will, muss riesige Volumen an Gütertransporten bewältigen können.» Nur so könne ULS überleben und eine geeignete Alternative zum Strassentransport werden, betont der ULS-Chef.
Konkret bedeute das, dass ULS seinen Logistikpartnern versprechen muss, alle Typen von Waren via Schiff und Velo ins Stadtzentrum zu liefern. «Spezialisierung auf kleines Stückgut etwa wäre wirtschaftlich nicht tragbar.» Nur wer gleichzeitig 25 Tonnen Getränke, 10 Tonnen Mehl und 5000 Postsendungen verarbeiten kann, werde Bestand haben, so Thomas Castan.
«Wir sind eben die Sprinter unter den Transporteuren. Wir sind die schnellsten über die letzten hundert Meter. Schneller als alle anderen», witzelt Thomas Castan. Damit meint er auch, dass ULS auf seine Art und Weise ebenfalls ein Nischenanbieter bleiben wird, nämlich ein Spezialist für die Auslieferung in städtischen Zentren. Bis an den Stadtrand liefern andere, die Marathonläufer.
Eine innovative Arbeitsteilung, die bald alltäglich werden soll, auch ausserhalb Strassburg und Lyon. Es fehlt bekanntlich nicht an Städten und an ausgebauten Wasserwegen, die sich an diesen beiden Pionierstädten orientieren könnten.