SRF News: Am Gipfeltreffen der Afrikanischen Union Anfang Februar wurden Forderungen laut, dass die Mitgliedstaaten geschlossen aus dem ICC austreten sollen. Doch die Union ist in der Frage gespalten...
Patrick Wülser: Ja. Der Spalt zwischen Ost- und Westafrika wird immer breiter. Im Osten befinden sich die Länder, die seit mehreren Jahren auf eine Austritt drängen. Dort sitzen auch all diese alten Autokraten, die an der Macht bleiben wollen. Im Westen haben wir mehr progressive Staatschefs. Diese treten auf die Bremse und finden es nicht sehr zielführend, jetzt aus dem Internationalen Staatsgerichtshof auszutreten.
Ist es den Regierungen in Ostafrika also nicht gelungen, eine gemeinsame Haltung zu finden?
Genau so ist es. Vor allem Kenia drängte darauf. Das hat vor allem mit der Geschichte dieses Landes zu tun. Nach den Wahlunruhen wurden der Präsident und sein Vizepräsident angeklagt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Die Verfahren wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt. Sie drängten darauf, aus Rache aus diesem «postkolonialen Gericht» auszutreten und bekamen auch Unterstützung aus Uganda, Burundi und Ruanda. Der Westen Afrikas hat sich dagegen gestellt. Der Kompromiss der Afrikanischen Union nach dem Gipfeltreffen ist: Jedes Land kann selber entscheiden, ob es im Gericht verbleiben oder sich zurückziehen will.
Kommt der Vorwurf, der ICC sei postkolonial, nur von den Regierungen, oder wird der auch von den Bevölkerungen getragen, zum Beispiel in Kenia?
Als ich mich hier in Kenia umgehört habe, nach den Wahlunruhen von 2007 mit 1000 Toten und Tausenden von vertriebenen Menschen, so war es mehrheitlich die normale Bevölkerung, die den ICC unterstützte. Und dies aus einem Grund: Es gab im Land selbst zwar eine Untersuchung. Man wusste, was da geschah, aber es gab kein einziges Gerichtsverfahren. Die Bürgerinnen und Bürger wünschten sich sehnlichst ein unabhängiges Gericht von aussen. Eines, das den Rechtsstaat ersetzt, das Genugtuung bringt – für all die Familienmitglieder, die verschollen waren, getötet oder vergewaltigt wurden. Diesen Wunsch erlebe ich auch in anderen Bürgerkriegsländern, etwa in der Zentralafrikanischen Republik oder jetzt in Gambia, nachdem Diktator Yahya Jammeh gestürzt wurde. Den Vorwurf der postkolonialen, weissen Justiz hört man vor allem von Autokraten, den Diktatoren selber. Und da liegt der Verdacht nahe, dass sie sich fürchten, einmal selber vor diesem Gericht stehen zu müssen.
In Kenia sagt man, es sei billiger, einen Richter zu bestechen, als einen Anwalt zu engagieren.
Ist die Sorge, dass Kriegsverbrechen gar nicht mehr verfolgt würden bei einem Austritt aus dem ICC, berechtigt?
Nach sechs Jahren in Afrika bin ich fest davon überzeugt, dass die Justiz in vielen Ländern ungenügend funktioniert und korrupt ist. In Kenia sagt man, es sei billiger, einen Richter zu bestechen, als einen Anwalt zu engagieren. In solchen Verhältnissen braucht es ein übergeordnetes Gericht. Aber die Afrikanische Union hat versprochen, dass in Afrika selber ein solches Gericht entstehen soll. Da muss man die AU beim Wort nehmen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass der ICC in Den Haag vielleicht etwas gar weit weg ist. Ich kann mich erinnern, als ich Uganda im Busch war und der Prozess gegen einen der Kommandanten der «Lord's Resistance Army» stattfand. Das wurde das zwar vom ICC live übertragen, aber in Englisch. Die Leute haben kein Wort verstanden. Das ist ein Problem. Also wäre es vielleicht eine gute Idee, wenn der ICC in Afrika eine «Filiale» eröffnen würde.
Das Gespräch führte Melanie Pfändler.