Es sollte eine Formalität sein: Die Partei, die im Repräsentantenhaus eine Mehrheit hat, wählt aus den eigenen Reihen den «Speaker», den Parlamentspräsidenten. 100 Jahre ist es her, dass ein solcher nicht im ersten Wahlgang gewählt wurde.
Doch als die neugewählte grosse Kammer im US-Kongress am Dienstag erstmalig zusammentrat, spielte sich Historisches ab: Kevin McCarthy, der republikanische Fraktionschef, erreichte auch nach drei langwierigen Wahlgängen nicht die nötigen 218 Stimmen für den Vorsitz.
Knappe Mehrheit schwer zu kontrollieren
Die Entscheidung wurde vertagt: Am Mittwoch folgt nun Wahlgang Nummer vier. All das ist auch das Ergebnis der Kongresswahl im letzten November. Die erwartete «rote Welle» blieb aus, die Republikanerinnen und Republikaner holten nur eine sehr knappe Mehrheit von vier Sitzen im Repräsentantenhaus. So eine Mehrheit ist nur sehr schwer zu kontrollieren. Wer Speaker werden will, muss um jede Stimme kämpfen.
Einzelne Parteiflügel, ja einzelne Abgeordnete, werden sehr mächtig. Fraktionsmitglieder ganz am rechten Rand haben jetzt demonstriert, dass sie bereit sind, diese Macht zu nutzen – auch wenn sie sich damit gegen eine grosse Mehrheit in der eigenen Partei stellen.
Trump-Anhänger gegen McCarthy
Es sind Mitglieder des sogenannten «Freedom Caucus», stramme Anhänger des ehemaligen Präsidenten Donald Trump, die die Revolte gegen Kevin McCarthy anführen. Sie verhinderten bislang seine Wahl, obwohl McCarthy ihnen im Vorfeld Zugeständnisse gemacht hatte.
McCarthy kämpfe zu wenig hart gegen die Regierung von Präsident Joe Biden, hiess es von seinen Gegnern. Diese kleine republikanische Minderheit droht den Parlamentsbetrieb zum Stillstand zu bringen: Bis ein Speaker gewählt ist, können die Abgeordneten nicht vereidigt werden.
Geiselhaft des rechten Parteiflügels
Der neue Speaker, egal wie er heisst, dürfte sich in einer prekären Position wiederfinden: unfähig, Mehrheiten in einer Partei zu finden, die vom rechten Flügel in Geiselhaft genommen werden kann. Das ist eine Art Déjà-vu: Auch John Boehner, republikanischer Speaker von 2011 bis 2015, schlug sich mit dem rebellischen «Freedom Caucus» herum. Am Ende warf er die Flinte ins Korn. Sein Nachfolger Paul Ryan beschloss 2018, ganz aus dem Kongress auszuscheiden.
Das alles verheisst nichts Gutes für den neuen Kongress: Die Republikaner wollen zwar die Biden-Regierung mit Untersuchungen zur Rechenschaft ziehen. Doch die republikanische Fraktion scheint unfähig, die neugewonnene Mehrheit zu nutzen.
Drohender Stillstand und Flügelkämpfe
Es droht ein gesetzgeberischer Stillstand, nur schon, weil die Demokraten die kleine Kammer, den Senat, kontrollieren. Und es droht ein Chaos, weil sich die republikanische Fraktion in Flügelkämpfen aufreibt. Das könnte spätestens dann zum Problem werden, wenn es um Gesetze geht, die den Kongress passieren müssen .
So muss dieser etwa die Schuldenobergrenze anheben, um zu verhindern, dass die US-Regierung zahlungsunfähig wird. Das wird zur Nagelprobe für diesen Kongress. Und das wird zur Nagelprobe für den neuen Parlamentspräsidenten – wenn denn endlich einer gewählt wird.