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Erdogans Gegner wagen zu hoffen
Aus Echo der Zeit vom 21.06.2018. Bild: Keystone
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Wahlen in der Türkei Auf diesen Mann hofft die Opposition

Hat Präsident Erdogan den Bogen überspannt? Darauf hoffen seine Gegner drei Tage vor der Wahl – und auf ihren Kandidaten Muharrem Ince.

Am Kreisel vor dem Fährhafen von Besiktas drehen die Regierungsparteien die Boxen auf. Die religiös-nationalistische AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan und ihr kleiner Bündnispartner vom rechten Rand, MHP, haben ihre Wahlstände gleich beieinander. Sie überziehen die Konkurrenz mit patriotischen Propagandagesängen.

Muharrem Ince fliegen die Herzen der Menschen zu.
Autor: Nazle Özhan Kampagnenleiterin der CHP

Doch die Opposition ist nicht weit: Ein paar Meter weiter gibt sie sich unbeeindruckt. Sie wähnt die Dynamik auf ihrer Seite. «Der Wahlkampf läuft super – und Muharrem Ince fliegen die Herzen der Menschen zu», sagt Nazle Özhan. Stolz verteilt die Kampagnenleiterin der kemalistischen CHP den Handzettel, auf dem der 54-jährige Präsidentschaftskandidat einem im offenen Hemd und selbstbewusst entgegen lacht.

«Erdogan und die Seinen wollen den türkischen Staat zerstören und das Kalifat zurückbringen», sagt Özhan. Um nichts weniger gehe es bei dieser Wahl. Doch die türkische Bevölkerung werde das nicht zulassen.

Die Partei von Staatsgründer Atatürk

Die CHP ist die ehemalige Staatspartei der Türkei, sie hat das Land jahrzehntelang stramm säkular und elitär geführt. Wenn die Politik von diesem Pfad der Tugend abwich, intervenierte die Armee.

Das Istanbuler Quartier Besiktas ist eine der CHP-Hochburgen. Doch Besiktas ist nicht die Türkei. Es ist die liberalste, westlichste Ecke der Millionenstadt am Bosporus. Das Quartier befindet sich weit weg von den anschwellenden Arbeitervorstädten Istanbuls, weit weg auch vom konservativen Anatolien, wo Erdogan seine Wähler vor allem rekrutiert. Dabei nutzt er geschickt die Ressentiments gegen diese Elite.

Mann in weissem Hemd auf einer Bühne spricht in ein Mikrofon, den linken Arm erhoben.
Legende: Muharrem Ince ist beliebt bei jenen, die gegen Erdogan sind. Reuters

Träfe Sprüche – und trotzdem fromm

Das möge sein, sagt die CHP-Kampagnenleiterin. «Aber Ince ist anders.» Der neue Star der Opposition stammt ebenfalls aus einfachen Verhältnissen – sein Vater war Lastwagenfahrer. Ince war vor seiner Politkarriere Physiklehrer, und er verlor selbst als Fraktionschef nicht seinen Humor.

Im Wahlkampf begibt sich der CHP-Spitzenkandidat keck auf Terrain, das bisher Erdogan für sich reklamierte. Er wagt träfe Spräche – und betont zugleich seine Frömmigkeit. Auch will Ince die religiösen Schulen nicht schliessen, mit denen Erdogan seien «Neue Türkei» überzieht. Doch er will Religion wieder zum Wahlfach herabstufen.

Vor allem aber will Ince den Ausnahmezustand aufheben, der seit dem gescheiterten Putsch gegen Erdogan vor bald zwei Jahren im ganzen Land gilt – und der zur Grundlage für eine Welle von Säuberungen und Repressionen wurde.

HDP – das Zünglein an der Waage?

Etwas abseits steht der Stand der kurdisch geprägten HDP. Die Partei macht Wahlkampf unter grossem Druck. Von den Medien wird sie geschnitten, viele Parteimitglieder wurden unter Terrorvorwürfen verhaftet. Selahattin Demirtaş, der Präsidentschaftskandidat der HDP, führt seine Kampagne direkt aus dem Gefängnis.

Sie befürchte das gleiche Schicksal für sich und hunderte andere Parteimitglieder, wenn sie die Wahl ins Parlament nicht schafften, sagt die HDP-Kandidatin Hacer Elçin.

Taktische Stimmen könnten ihr und der Partei helfen. Denn in der Arithmetik dieser Wahl kommt der HDP eine besondere Rolle zu. Wenn sie die Zehnprozent-Hürde schafft, bedeutet das fast sicher, dass die AKP von Erdogan ihre absolute Mehrheit im Parlament verliert. Das macht die HDP auch für Wähler interessant, die zwar nicht für sie, aber gegen die AKP sind.

Menschenmenge schwenkt Türkei-Fahnen und Plakate mit Ince-Porträts.
Legende: Aus allen Teilen der Bevölkerung stammen die Unterstützer Inces – vor allem aber aus den Städten. Reuters

Ein lebhafter Wahlkampf

Doch kann dieser Urnengang unter den Bedingungen des Ausnahmezustands überhaupt fair sein? Schliesslich stehen auch die Medien unter völliger Kontrolle der Regierung.

Immerhin sollen Wahlbeobachter dafür sorgen, dass zumindest Stimmabgabe und -auszählung ordnungsgemäss verlaufen. Hakan Ataman ist einer von ihnen. «Frühere Erfahrungen lassen Zweifel aufkommen – aber ich will niemanden vorverurteilen», sagt der Bürgerrechtler der Organisation Citizens Assembly.

Hin- und hergerissene Jugend

Der Wahlkampf immerhin wirkt lebhaft. Es wird überraschend kontrovers diskutiert am Fährhafen von Besiktas.

Drei Freunde versuchen, sich einen Reim auf das Angebot der Parteien zu machen. Es sind Erstwähler. Jussuf neigt zu Ince, dem wichtigsten Herausforderer von Erdogan. Der CHP-Spitzenkandidat verspricht in die Erziehung zu investieren, das überzeugt den Erstsemestrigen in Veterinärmedizin.

Ibrahim hält dagegen: Ince sei nur Fassade, hinter ihm lauere die Fratze der alten Staatspartei. «Erdogan dagegen hat Grosses erreicht: Er hat Brücken, Autobahnen, Flughäfen geschaffen, das Land modernisiert, und ihm zugleich seine Seele zurückgegeben.»

Der Präsident sagt, die «Neue Türkei» solle fromm sein. Und er interveniert bis in die Lehrpläne an den Schulen hinein, um das sicherzustellen. Das gefällt Ibrahim. Empört aber Jussuf. «Wir sind doch im Zeitalter der Wissenschaften. Dem muss die Schule Rechnung tragen», sagt er.

Alles eine Verschwörung des Westens?

Und was meint er zur Repression? In jedem Land würden Staatsfeinde festgenommen, sagt Ibrahim. In Amerika würden sie sogar gehängt. Das wiederum bringt Iahyia, den Jüngsten der drei, gegen ihn auf: «Anderswo kann man sehr wohl die Regierung kritisieren, in der Türkei aber sind auch viele verhaftet worden, die nichts mit den Putschisten zu tun hatten», hält er entgegen.

Einig sind sich die drei, dass die Wirtschaftsaussichten schlecht sind. Doch wer ist daran schuld? Ibrahim wittert hinter der Kursschwäche der türkischen Lira eine Verschwörung des Westens. Genau gleich argumentiert Erdogan im Wahlkampf. Der Präsident wähnt die Türkei sowieso von Neidern und Feinden umgeben.

Offener Ausgang bei einer Stichwahl

Zurück zum Stand der AKP. Auch hier verteidigt Mohammed die Regierungslinie. «Vielleicht geht es der Türkei schlechter als vor einem Jahr. Aber gewiss nicht schlechter als vor sechzehn Jahren, als Erdogan an die Macht kam», sagt er. Doch irgendwie scheint dem Regierungslager die gewohnte Selbstsicherheit abhandengekommen zu sein.

Falls es zur Stichwahl kommt: Hätte Ince dabei womöglich sogar eine Chance? Selbst der AKP-Sympathisant will das nicht völlig ausschliessen. Im Internet laufe eine wahre Schmutzkampagne gegen Erdogan, besonders unter den Jungen verfange die, sagt er.

Nebenan dreht die CHP die Boxen auf. Und besingt ihren neuen Hoffnungsträger Muharrem Ince umso kräftiger.

Ein brillanter Kontrahent Erdogans

Box aufklappen Box zuklappen

Muharrem Ince ist laut, witzig und rhetorisch brillant. Inhaltlich ist er der Gegenentwurf zu Erdogan. Er wirbt damit, der «Präsident aller» zu sein. Ince will eine unabhängige Justiz und freie Medien. Er hat den inhaftierten pro-kurdischen Präsidentenkandidaten, Demirtaş, im Gefängnis besucht – Erdogan nennt diesen einen «Terroristen». Den Ausnahmezustand will Ince innerhalb von 48 Stunden nach seiner Wahl aufheben. Sein Ziel ist die Mitgliedschaft der Türkei in der EU. (dpa)

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