Im Wartezimmer im Hospital del Mar in Barcelona. Eine junge Frau beobachtet die Rettungswagen vor dem Fenster; eine ältere dreht gedankenverloren eine leere PET-Flasche in ihren Händen. Wer hier sitzt, der wartet. Und hat das eigentliche Warten doch schon hinter sich.
«Geht es nicht unmittelbar um Leben und Tod, warten die Patienten monatelang», sagt Josep Maria Puig. Er ist Facharzt für Nierenkrankheiten am Hospital del Mar und Generalsekretär der Gewerkschaft der katalanischen Ärzte.
Fast 100 Tage Wartezeit
Auf einen Termin beim Spezialisten wartet man in Spanien durchschnittlich 97 Tage. Bei einer ärztlichen Untersuchung – etwa einer Mammografie oder einer Darmspiegelung – beträgt die Wartezeit 74 Tage. Und auf einen chirurgischen Eingriff, zum Beispiel ein künstliches Kniegelenk, wartet man im Schnitt 81 Tage.
Die Wartelisten sind nur das Symptom.
Nirgendwo in Spanien sind die Wartelisten so lang wie hier in Katalonien. Doch das Problem besteht im ganzen Land. Im europäischen Vergleich liegt Spanien auf einem der hintersten Plätze.
«Doch die Wartelisten sind nur das Symptom», betont Puig. Das eigentliche Problem, die Krankheit, sei die Politik. Seit vielen Jahren fehle es an jeglicher Planung.
Fehlende Kostenbeteiligung
Für Santiago Niño Becerra liegen die Ursachen sogar noch tiefer. Er ist Ökonom, einer der bekanntesten des Landes. Und er warnt: Das spanische Gesundheitssystem sei alles andere als nachhaltig.
Wer in Spanien zum Arzt geht, der bezahlt dafür direkt nichts. Er beteiligt sich – anders als in der Schweiz – nicht an den Kosten seines Besuchs. Das System wird ausschliesslich durch Steuergelder finanziert, sowie einen monatlichen Beitrag zur «Seguridad Social», der Sozialversicherung, die jedoch nicht nur Krankheit und Umfall umfasst, sondern unter anderem auch Arbeitslosigkeit und Invalidität.
Früher oder später müsse sich das ändern, ist Niño Becerra überzeugt. Nur: Der durchschnittliche Patient könne sich eine solche Kostenbeteiligung schlicht nicht leisten – dafür seien die Löhne in Spanien zu tief.
Kein Ausweg in Sicht
Das System steckt in der Sackgasse. Wie es wieder herauskommen soll, darüber wird im spanischen Wahlkampf lieber geschwiegen.
Genauso wie über die Altersarmut. In den letzten Monaten kam es deswegen zu mehreren grossen Protesten. Zehntausende gingen auf die Strasse, um für höhere Pensionen und eine Reform des Systems zu demonstrieren.
Senioren wehren sich
Eine der Demonstrantinnen ist Amparo Grolimund. «Schon um unsere Pensionen steht es schlecht», sagt sie, «aber für die zukünftigen Generationen sieht es richtig düster aus».
Für die zukünftigen Generationen sieht es richtig düster aus.
Amparo Grolimund ist 75 Jahre alt und spanisch-schweizerische Doppelbürgerin – dank ihres Grossvaters, Otto Grolimund, der in Beinwil im Kanton Solothurn geboren wurde. Und Amparo Grolimund ist eine «Yayoflauta»: Mitglied einer Gruppe engagierter Senioren, die sich für Freiheit und soziale Gerechtigkeit einsetzen, wie sie sagen – unter anderem für ein würdevolles Leben im Alter.
Seit sieben Jahren schon versammeln sich die Yayoflautas jeden Montagabend auf der Puerta del Sol, dem bekannten Platz im Zentrum von Madrid. «Damit die dort drüben endlich etwas ändern», sagt Grolimund und deutet auf das grosse Gebäude mit der rot-weissen Fassade und der Turmuhr, den Sitz der Regierung von Madrid. Nur: «Die dort drüben» wissen nicht, wie sie das Problem der Altersarmut lösen sollen.
«Das System ist zum Scheitern verurteilt»
«Spanien hat ein echtes Problem», sagt der Ökonom Santiago Niño Becerra. «Das aktuelle Rentensystem ist zum Scheitern verurteilt. Und die Politik hat keine Antworten.»
Niño Becerra hat einen Bestseller geschrieben über die Finanz- und Immobilienkrise, die vor mehr als zehn Jahren ihren Anfang nahm und die die Spanier noch immer spüren. Die Altersvorsorge basiere auf veralteten Annahmen, sagt er.
Das aktuelle Rentensystem ist zum Scheitern verurteilt.
Die Arbeitslosigkeit sei mit 14 Prozent viel zu hoch, als dass die Jüngeren genug einzahlen könnten, um die Renten der Älteren zu finanzieren. Und eben: Jene, die Arbeit hätten, hätten viel zu tiefe Löhne. Dazu komme, dass die Pensionäre immer länger leben würden. Spanien ist – wie auch die Schweiz – eines der Länder mit der höchsten Lebenserwartung weltweit. Die Rechnung gehe schlicht nicht auf.
Eine Generation von «armen Alten»
Santiago Niño Becerra sei ein linker Untergangsprophet, sagen seine Kritiker. Aber er ist nicht der einzige, der sich schwertut mit dem Optimismus angesichts der Fakten. Knapp 13 Prozent der spanischen Senioren – das sind rund 1.2 Millionen Menschen – sind gemäss der aktuellsten EU-Statistik von Armut bedroht.
Die OECD warnte letzten November davor, dass Spanien auf eine «Generation der armen Alten» zusteuere. Sie empfahl, das Rentenalter – das heute bei 65 Jahren liegt – zu erhöhen. Das geschieht bereits, Schritt für Schritt. Im Jahr 2027 will man bei 67 Jahren angekommen sein.
Die staatliche Rente ist für die grosse Mehrheit der spanischen Pensionäre die einzige Lebensgrundlage. Eine zweite Säule ist nicht obligatorisch. Und Ersparnisse haben nach der Krise nur die wenigsten.
Die Parteien gingen das Thema nur widerwillig an in diesem Wahlkampf, sagt Niño Becerra: Es stehe so schlecht um die spanische Wirtschaft, dass man sich stillschweigend darauf geeinigt habe, nicht darüber zu reden.
«Bezahle ich Essen oder die Stromrechnung?»
Sie habe Bekannte, die von 400 Euro pro Monat leben müssten, erzählt Amparo Grolimund. Diese müssten sich die Frage stellen: «Was tue ich? Kaufe ich mir etwas zu essen oder die Medikamente? Oder bezahle ich die Stromrechnung?».
Zuhause vor dem Fernseher zu sitzen, macht es auch nicht besser.
Sie selber sei nicht in einer derart prekären Situation, betont Grolimund – nicht zuletzt dank ihres Schweizer Passes: Weil sie freiwillig in die AHV einbezahlt hat, erhält sie eine monatliche Rente aus der Schweiz.
Wenn sie auf die Strasse gehe, dann tue sie das nicht für sich. Sondern für jene, denen es schlechter gehe als ihr. Und für ihre Kinder und die sieben Enkel. «Was hier passiert ist schrecklich», sagt Amparo Grolimund. «Aber Zuhause vor dem Fernseher zu sitzen, macht es auch nicht besser.»