Die Ausgangslage: Der Oberste Gerichtshof in Mexiko hat kürzlich entschieden, dass Abtreibung kein Verbrechen mehr ist. Zwar ging es bei dem Urteil nur um einen Paragrafen in einem Bundesstaat, doch das Urteil wirkt sich auf die Rechtsprechung im ganzen Land aus.
Die Vorgeschichte: Der Entscheid ist laut Sandra Weiss, freie Journalistin in Mexiko, das «Sahnehäubchen» eines sehr, sehr langen Kampfes der Frauen in Mexiko. 2007 legalisierte Mexiko-Stadt als erstes Bundesland die Abtreibung, konservative Gruppen klagten. Das Oberste Gericht hat sich laut Weiss dann um den Entscheid gedrückt und sagte, das könne jedes Bundesland, jeder Kongress selbst entscheiden. Daraufhin zogen weitere Bundesländer nach. Auf weitere Klagen fällte das Oberste Gericht 2021 ein Grundsatzurteil, worin es hiess, dass ein absolutes Abtreibungsverbot verfassungswidrig sei. «Auch das war eine zweideutige Formulierung», sagt Weiss. Feministinnen zogen wieder vor Gericht und forderten eine richtige Legalisierung. Nun hat sich das Oberste Gericht positioniert und daraus ein Recht gemacht.
Die Hindernisse: Dass es so lange ging, liege am sehr zähen Patriarchat in Mexiko, erklärt Weiss, an der lautstarken konservativen Lobby und am politischen Einfluss, den katholische und protestantische Gruppen weiterhin ausüben. Auch gebe es Parteien in Mexiko, die grundsätzlich gegen eine Freigabe der Abtreibung stimmten und es schafften, in vielen Bundesstaaten entsprechende Gesetze zu blockieren. Komme hinzu: Viele Richter und Ärzte seien konservativ und weigerten sich, diese Urteile umzusetzen. Dafür gebe es bisher keine Sanktionen.
Die Kämpferinnen: Die Klage hatte die Organisation Gire eingereicht, eine der vielen feministischen Gruppen, die in den letzten 25 Jahren in Mexiko entstanden sind. Gire hat sich laut Weiss auf strategische Klagen spezialisiert. Sie beschäftigt Anwältinnen, die sich darum kümmern, Rechte für betroffene Frauen einzuklagen.
Der Stimmungswandel: In den letzten Jahren hat es laut Weiss in Mexiko einen Wandel gegeben. Die Gesellschaft sei generell laizistischer geworden, die Religion verliere an Einfluss. «Vor allem die Jugend identifiziert sich viel mehr mit progressiven Ideen.» Der Kampf der Feministinnen habe auch dazu geführt, dass die Kandidierendenlisten für den Kongress inzwischen paritätisch besetzt sein müssten. Und auch in den Gerichten sind inzwischen sehr viel mehr Frauen vertreten. Der Vorsitz des Obersten Gerichtshofs ist jetzt weiblich besetzt. «Ich glaube, es ist kein Zufall, dass das Urteil jetzt unter einer Frau gefällt wurde», so Weiss.
Die Auswirkungen: Laut Weiss räumt das Grundsatzurteil den Frauen ein Anrecht darauf ein, dass sie Schwangerschaftsabbrüche im staatlichen Gesundheitssystem vornehmen dürfen. «In gewisser Weise nimmt das also der Abtreibung das Stigma und macht daraus ein Recht. Es ist also ein sehr, sehr grosser Sieg der Feministinnen gegen das Patriarchat.»