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Westbalkan-Gipfel in Slowenien Die EU tut sich schwer mit den Balkanländern

Die sechs Länder des Westbalkans hoffen auf baldige Beitrittsverhandlungen. Doch die EU ist vorerst mit sich selber beschäftigt.

Die EU-Staats- und Regierungschefs treffen heute in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana ihre Kolleginnen und Kollegen aus den sechs Westbalkan-Staaten Albanien, Nordmazedonien, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Kosovo.

Die Erwartungen an den Gipfel sind so niedrig wie noch nie.
Autor: Adelheid Wölfl Südosteuropa-Korrespondentin «Der Standard»

Thema sind die gemeinsamen Beziehungen sowie die Perspektiven der sechs Länder für einen Beitritt zur Europäischen Union. 2003 war erstmals eine EU-Beitrittsperspektive für die Länder der Region formuliert worden. Doch seither ist nicht viel passiert.

Kaum grosse Fortschritte

«Die Erwartungen an den Gipfel sind so niedrig wie noch nie», sagt Adelheid Wölfl. Sie ist Südosteuropa-Korrespondentin der österreichischen Zeitung «Der Standard». EU-Länder wie Frankreich, Dänemark oder die Niederlande wollten den Begriff Beitrittsperspektive nicht einmal mehr im Schlussdokument des Treffens haben, so Wölfl.

So weit sind die sechs Kandidaten

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Serbien und Montenegro:
Bislang am weitesten fortgeschritten auf dem Weg hin zur Erfüllung der EU-Anforderungen für einen Beitritt ist Montenegro . Dort sei aber im rechtsstaatlichen Bereich, dem für die EU zentralen Bereich, noch viel zu tun, sagt Wölfl. Immerhin: Mit der neuen Regierung gebe es Hoffnung, dass hier Fortschritte erzielt werden.

Ganz anders sei die Situation in Serbien , mit dem die EU ebenfalls seit Jahren über einen möglichen Beitritt spricht. «Die serbische Regierung hat in den letzten Jahren überhaupt keine Reformschritte gemacht», stellt die Journalistin fest. Das Parlament sei bedeutungslos, die Medien unter Kontrolle der Regierung. «Offensichtlich will die Regierung von Präsident Aleksandar Vucic nicht in Richtung EU gehen.»

Trotzdem – oder gerade deswegen – geniesse Serbien die Unterstützung vom EU-Mitglied Ungarn, das unter Premier Viktor Orban einen ähnlichen, rechtspopulistisch-autokratischen Weg wie Serbien eingeschlagen habe. Allerdings wolle ein grosser Teil der Serben gar nicht in die EU. «Die Unterstützung in der Bevölkerung für einen EU-Beitritt ist von allen sechs Westbalkan-Ländern in Serbien am kleinsten», so Wölfl.

Nordmazedonien und Albanien
Die EU-Kommission gab schon vor zwei Jahren grünes Licht für Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien. Doch: «Die Verhandlungen kommen nicht voran», sagt SRF-Korrespondent Charles Liebherr.

Zwar habe Nordmazedonien in den vergangenen Jahren viele Reformen im Hinblick auf einen möglichen EU-Beitritt durchgeführt. «Das Land ist denn auch die glänzende Ausnahme», stellt die Journalistin Wölfl fest. Trotz der grossen Fortschritte darf Nordmazedonien immer noch nicht mit der EU über einen Beitritt verhandeln – wegen des Vetos des Nachbarlands und EU-Mitglieds Bulgarien wegen eines Sprachenstreits. Zuvor hatten in den letzten Jahren zunächst Griechenland und dann Frankreich Gespräche verhindert. «Es ist ein Trauerspiel», so Wölfl.

Auch Albanien habe rechtsstaatliche Reformen durchgeführt und etwa korrupte Richter und Staatsanwälte aus dem System entfernt, so Wölfl. Allerdings sei die Entwicklung in anderen Bereichen weniger stark fortgeschritten, ausserdem gebe es autoritäre Tendenzen im Land. Weil Nordmazedonien und Albanien bei möglichen Verhandlungen über einen EU-Beitritt aneinander gebunden sind, sei es nun wichtig, dass Bulgarien sein Veto gegenüber Nordmazedonien zurückziehe.

Bosnien-Herzegowina und Kosovo
Am wenigsten weit fortgeschritten im Hinblick auf einen EU-Beitritt sind Bosnien-Herzegowina und Kosovo.

Bosnien-Herzegowina sei weiterhin von verschiedenen nationalistischen Kräften destabilisiert, welche den Staat Bosnien-Herzegowina zerstören wollten, so Wölfl. Dies verunmögliche derzeit eine ernsthafte Perspektive auf Verhandlungen mit der EU.

Schwierig ist auch die Situation von Kosovo , das nicht einmal von allen 27-EU-Ländern als eigenständiger Staat akzeptiert wird. Dieses jüngste europäische Land sei aber auch «ein Opfer der verantwortungslosen und unverständlichen EU-Politik», sagt die Journalistin. Die EU habe Kosovo stets eine Belohnung für Reformen versprochen, etwa die visafreie Reise in den EU-Raum. «Kosovo hat alles erfüllt, doch die EU hat dem Land nichts gegeben.» Grund dafür sei der Widerstand einiger EU-Länder. Entsprechend enttäuscht seien die Kosovaren von der EU – auch wenn die grosse Mehrheit der Bevölkerung möglichst rasch der EU beitreten möchte.

Zwar werde am Gipfeltreffen erneut Geld aus der EU für die Westbalkan-Länder gesprochen, es werde auch über Kooperation diskutiert. Doch: «Konkrete Schritte hin zu Beitrittsgesprächen sind aber keine zu erwarten», sagt die Journalistin.

Das sieht auch SRF-Korrespondent Charles Liebherr so. Er befindet sich derzeit in Slowenien: «Die 27 EU-Staaten werden die sechs Westbalkan-Länder weiter vertrösten müssen.»

Zu wenig weit bei den Reformen

Liebherr ortet die Probleme aber auf beiden Seiten: So habe es Brüssel nicht geschafft, die Kandidaten aus dem Westbalkan an die EU-Standards heranzuführen, die sechs Länder ihrerseits hätten nicht geliefert, was sie versprochen haben. «Sie reformieren ihre Staaten deutlich zu langsam», so Liebherr. Vor allem die Reformen im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Justiz gingen der EU nicht schnell genug voran.

Ungarn nicht besser als Serbien?

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Vonseiten etlicher EU-Länder heisst es immer wieder, die Entwicklung der Westbalkanländer im Bereich Rechtsstaatlichkeit sei immer noch ungenügend, die Korruption ein riesiges Problem. Doch dieser Vorwurf werde in diesen Ländern kaum mehr ernst genommen, sagt die Journalistin Wölfl. Denn schliesslich kämpfe auch Brüssel in einigen EU-Mitgliedsländern wie Ungarn oder Polen mit ähnlichen Problemen.

Die EU handle alles andere als konzise: Es sei lächerlich, dass ein Autokrat wie Serbiens Präsident Aleksandar Vucic von europäischen Staatslenkern wie Angela Merkel oder Sebastian Kurz besucht und hofiert werde – ohne eine einzige Andeutung über die fragwürdigen Methoden Vucics. «Viele Menschen in der Region können die EU deshalb nicht mehr ernst nehmen», stellt die Balkan-Kennerin Wölfl fest.

Trotzdem müsse die EU den Ländern irgendeine Perspektive geben, dereinst der EU beitreten zu können, so der Korrespondent. Die EU tue dies mit weiteren Krediten von rund fünf Milliarden Euro pro Jahr. Damit bleibt die EU – auch wenn China, die Türkei oder Russland immer wieder versuchen, in der Region an Einfluss zu gewinnen – der grösste Geldgeber in der Region.

Doch der Druck auf die EU nehme zu, den Ländern und Menschen in der Westbalkan-Region eine positive Zukunft in Aussicht zu stellen. «Die EU muss glaubwürdige Alternativen zum Fernziel EU-Beitritt aufzeigen», sagt Liebherr.

EU mit sich selbst beschäftigt

Die EU-Länder rangen im Vorfeld des Gipfels in Slowenien denn auch um eine gemeinsame Haltung den sechs Länder des Westbalkans gegenüber. Frankreich etwa hält die EU wegen ungelöster Probleme in den eigenen Reihen für derzeit nicht erweiterungsfähig.

Die EU muss glaubwürdige Alternativen zum Fernziel EU-Beitritt aufzeigen.
Autor: Charles Liebherr SRF-Korrespondent bei der EU, derzeit in Slowenien

Paris befürchtet, dass eine Erweiterung der 27 um sechs weitere Länder die schon jetzt oft sehr zeitraubenden Entscheidungsprozesse noch schwieriger machen könnte.

Länder wie Deutschland argumentieren hingegen, dass es erhebliche Risiken berge, die Hoffnungen der Beitrittsaspiranten zu enttäuschen. Sie verweisen darauf, dass die Balkanstaaten auch von Ländern wie Russland, China und der Türkei umworben werden.

Frankreich gibt nicht nach

Laut der Deutschen Depechenagentur soll in der Gipfelerklärung festgehalten werden, dass die Fähigkeit zur Integration neuer Mitglieder in die EU auch eine Weiterentwicklung der Union selbst voraussetzt.

Mit dem Zusatz will sich nach Angaben von Diplomaten vor allem die Regierung in Paris die Möglichkeit offenhalten, die Aufnahme neuer Mitglieder zu blockieren, wenn sich die EU in den kommenden Jahren aus französischer Sicht als nicht reformfähig erweisen sollte.

SRF 4 News aktuell vom 6.10.2021, 07:20 Uhr ; 

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