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Westbalkan im «Wartesaal» «Präsident Vučić erwartet Dich»

Die Europäer auf dem Westbalkan sitzen in einem ewigen Wartsaal. Ihre EU-Zukunft hängt von einer Einigung im Kosovo-Konflikt ab. Warum ausgerechnet jetzt Serbiens einst ultranationalistischer Präsident einen albanischen Journalisten aus Kosovo zum Interview bittet.

Nach drei Jahren Warten kam die Nachricht per Facebook-Messenger: «Der Präsident erwartet Dich zum Interview.» Offensichtlich hat Aleksandar Vučić, der starke Mann Serbiens, kurz vor dem Westbalkan-Gipfel in Sofia eine Botschaft in Richtung albanisch-sprachiger Bevölkerung. Deshalb stellte er sich vergangene Woche den Fragen des kosovarischen Journalisten Idro Seferi. Die Geschichte hinter der Geschichte.

«Kosovo war die Hölle auf Erden»

Das Interview ist kein Zufall – und ein Wagnis für den serbischen Präsidenten: Aleksandar Vučić zieht Auftritte an Pressekonferenzen und in regierungsfreundlichen Medien vor. So kann er seine Botschaften kontrolliert platzieren. Ein freies Interview mit einem unabhängigen Journalisten und erst noch einem Albaner aus Kosovo: Das ist ein politischer Akt in der verfahrenen Situation zwischen Belgrad und Pristina. Vučić hat ein Gesprächsangebot mit der «anderen Seite» angenommen.

Eigener Staat oder das Herz Serbiens?

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1912: Serbien erobert Kosovo vom Osmanischen Reich und damit die orthodoxen Klöster aus dem Mittelalter. Die mehrheitlich albanische Bevölkerung empfindet Serbien als Kolonialmacht.

1946-1966: Der jugoslawische Innenminister (und spätere Vizepräsident) Aleksandar Ranković geht mit harter Hand gegen angebliche Konterrevolutionäre in Kosovo vor. Unter seiner Herrschaft werden rund 400'000 Kosovo-Albaner in die Türkei abgeschoben.

1974: Partisanen-Präsident Josip Broz Tito gibt Kosovo weitreichende Autonomie. Mit Investitionen in Infrastruktur und Bildung sollen die Kosovo-Albaner stärker in den jugoslawischen Staat eingebunden werden. Insbesondere in den Städten geht der Plan auf.

1986: In einem Manifest der serbischen Akademie der Wissenschaften kritisieren Intellektuelle den Verlust Kosovos und sprechen von einem Genozid an den Serben. Mit der Kosovo-Polemik beginnt der Zerfall Jugoslawiens.

1989: Slobodan Milošević hebt die Autonomie Kosovos auf. Die Albaner gründen bald darauf eine Schattenrepublik mit eigenen Parallelstrukturen für alle Bereiche des Lebens. Unter Präsident Ibrahim Rugova leisten sie friedlichen Widerstand gegen die «serbische Apartheid».

1998/1999: Kosovo-Krieg. Die Kosovo-Befreiungsarmee UÇK reizt die serbischen Sicherheitskräfte zu Menschenrechtsverletzungen. Die Nato greift ein und erzwingt die Errichtung eines UNO-Protektorats (Resolution 1244). Die UÇK-Kommandanten übernehmen die Macht. Sie werden der Kriegsverbrechen verdächtigt (Marty-Bericht).

2008: Kosovo erklärt sich einseitig von Serbien unabhängig. Die USA, die Schweiz und die Mehrheit der EU-Staaten anerkennt die Eigenstaatlichkeit. Russland, aber auch Spanien unterstützt die serbische Position.

2013/2015: EU vermittelt erste Normalisierungsabkommen zwischen Serbien und Kosovo. Umstritten ist die Gründung eines «serbischen Gemeindeverbands» mit direktem Link nach Belgrad. Pristina befürchtet einen Staat im Staat. Zuletzt ist der Normalisierungsprozess faktisch zum Stillstand gekommen.

Idro Seferi erlebte den Konflikt und den Krieg in Kosovo am eigenen Leib: Die Angst um den Vater, der in den 1990er-Jahren wegen seines friedlichen Widerstands im Gefängnis sass. Die Gewalt der serbischen Paramilitärs, die seine Heimatstadt Peja/Peć mit Feuer und Schwert ethnisch säubern wollten.

Kosovo war die Hölle auf Erden.
Autor: Idro Seferi Kosovarischer Journalist

Die unendliche Trauer um den Cousin und besten Freund, der einfach so erschossen am Strassenrand liegen blieb. Idro Seferi war 15-jährig, als er schliesslich in der Dunkelheit über den Pass ins Nachbarland Montenegro flüchten musste: «Kosovo war die Hölle auf Erden.»

Für mich war Belgrad wie eine Therapie. Ein Leben mitten unter den Serben.
Autor: Idro Seferi Kosovarischer Journalist

Nach dem Krieg überschrieb die grosse Mehrheit der Kosovaren ihr Trauma mit dem Heldenepos der Befreiung. Idro Seferi scherte aus diesem kollektiven Verdrängen aus: Als blutjunger Journalist stellte er das schnelle Geld und die undurchschaubaren Machenschaften der neuen Mächtigen in Kosovo in Frage, gewann Preise – und hatte bald genug davon, sich immer im gleichen Kreis zu drehen.

Zwei Personen sitzen sich gegenüber vor einem grossen Wandgemälde.
Legende: Der serbische Präsident Aleksandar Vučić (links) im Gespräch mit dem kosovarischen Journalisten Idro Seferi. SRF

So machte er sich auf nach Belgrad: Dorthin, wo für ihn der Krieg herkam, der ihn und viele andere um Kindheit und Jugend brachte: «Für mich war Belgrad wie eine Therapie. Ein Leben mitten unter den Serben.» Serbisch sprach er erst nur bruchstückhaft, die Beschaffung der Papiere war abenteuerlich, und Abnehmer für seine Berichte aus Serbien hatte Idro Seferi auch noch nicht.

Ein Feuerwehrmann gegen geistige Brandstifter

Wort für Wort, Tag für Tag erarbeitete er sich seinen Namen und ist heute der einzige Fernsehkorrespondent für albanisch-sprachige Medien in Belgrad. Dazu ist er Dauergast in serbischen Talk-Shows, um die kosovarische Sicht der Dinge zu erklären. Meistens sitzt er dann expliziten Gegnern der Unabhängigkeit Kosovos gegenüber: «Ich bewahre meine Distanz als Journalist und kann dem Publikum doch überraschende Denkanstösse geben.»

Idro Seferi versteht sich mit seiner Arbeit als eine Art Feuerwehrmann gegen geistige Brandstifter auf beiden Seiten, die mit wüsten Reden und dicken Schlagzeilen die Gegensätze beschwören. Seit 2014 berichtet er auch für SRF aus der Region: «Ich versuche den Stereotypen konstruktive Geschichten entgegenzusetzen.»

Die starken Männer brauchen einander. Ohne den Gegenpart läuft ihre Politik ins Leere.
Autor: Idro Seferi Kosovarischer Journalist

Das ist nicht immer ganz einfach, denn die Bilder und die Schlagzeilen vom Westbalkan sprechen oft eine andere Sprache: Gerade in den letzten Wochen lieferten sich die starken Männer Kosovos und Serbiens wieder laute Wortduelle. Kriegsrhetorik wie in den 1990er Jahren statt Normalisierung.

Denn noch immer dominieren die Protagonisten der Vergangenheit die Politik der Gegenwart. In Kosovo die ehemaligen UÇK-Kommandanten um Präsident Hashim Thaçi, in Serbien Aleksandar Vučić, einst Mitglied der radikalen Partei des Ultranationalisten Vojslav Šešelj. «Diese starken Männer brauchen einander», ist Idro Seferi überzeugt: «Ohne den Gegenpart läuft ihre Politik ins Leere.»

«Bedauern Sie die Vergangenheit, Herr Vučić?»

Doch alle Anfragen für ein direktes Interview an die Adresse der Albaner liess Aleksandar Vučić unbeantwortet. Bis die Einladung direkt aus dem Präsidentenpalast kam. Für Idro Seferi eine Gratwanderung: «Ich wollte nicht einfach seine Botschaft übermitteln, sondern kritische Fragen stellen. Gleichzeitig wollte ich, stellvertretend fürs albanische Publikum, Aleksandar Vučić auch zuhören.»

So sass Idro Seferi schliesslich dem serbischen Präsidenten gegenüber. Mehr als einfach ein Interview, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: «Ich habe Aleksandar Vučić gefragt, ob er die serbische Politik der 1990er Jahre in Kosovo bedaure – und er räumte Fehler ein.» Er wolle Frieden mit den Albanern.

Vučić sucht einen Kompromiss

Offensichtlich, bilanziert Idro Seferi, suche Vučić einen historischen Kompromiss: Serbien erhält den mehrheitlich serbisch-bevölkerten Norden und anerkennt dafür die Souveränität Pristinas. Dafür muss er zunächst seine Wähler gewinnen, aber auch die albanische Öffentlichkeit auf dem Westbalkan.

Denn Brüssel legt den Rest ihrer noch vorhanden «soft power» in die Waagschale: Ohne Einigung in Kosovo keine EU-Mitgliedschaft für Serbien. Das Interview mit Idro Seferi für «TV Klan» aus Tirana ist somit Teil der diplomatischen Aktivitäten vor dem Westbalkan-Gipfel in Sofia.

Machtpoker am Westbalkan-Gipfel

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Am 17. Mai findet in Sofia ein Gipfeltreffen zwischen den Regierungschefs der EU und der sechs Westbalkanstaaten satt.

Nach der Eskalation im Frühling kommt dem Gipfel besondere Bedeutung zu: Die EU versucht, sich politisch auf dem Westbalkan zurückzumelden. Zuletzt schienen Russland und die Türkei ihren Einfluss in der Region auszuweiten. Der Westen hat auch hier handfeste Konkurrenz in einem neuen System von Grossmächten, das sich in den letzten Jahren entwickelt hat.

Der ungelöste Konflikt in Kosovo ist Teil wesentlicher Bestandteil dieses Machtpokers. Der serbische Präsident Vučić holt sich seinen Rückhalt bei Wladimir Putin in Moskau, Hashim Thaçi scheint sich nicht nur in Washington abzusichern, sondern auch beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

So gab es in den letzten Tagen eine beachtliche Häufung diplomatischer Aktivitäten:

  • Der serbische Präsident Vučić trifft seinen Amtskollegen Erdogan in Ankara und hält fest: «Die Türkei ist das stärkste Land auf dem Balkan».
  • Kosovo-Präsident Thaçi trifft Bundeskanzlerin Merkel in Berlin. Sie pocht auf eine Umsetzung des serbischen Gemeindeverbandes in Kosovo und eine Lösung der Energiefrage.
  • Aleksandar Vučić ist Ehrengast des russischen Präsidenten anlässlich der Siegesparade zum Sieg über Nazi-Deutschland. Dies führt zu einer Kontroverse über die Westausrichtung Serbiens.
  • Geheimtreffen der Westmächte in Washington (gemäss kosovarischen Medienberichten): Grundprinzipen für einen neuen Dialog zwischen Belgrad und Pristina (EU-Perspektive für Serbien, UNO-Mitgliedschaft für Kosovo).

Aleksandar Vučić balanciert zwischen der EU, Russland und der Türkei hin und her. Es ist ein Versuch, an die erfolgreiche Diplomatie Titos im Kalten Krieg anzuschliessen. Damals war Jugoslawien ein «blockfreies Land».

Die EU hat zwar erkannt, dass sie auf dem Westbalkan an Einfluss verliert. Dennoch sind die Erwartungen an Gipfel gedämpft. Schon im Vorfeld gab es Turbulenzen um die Teilnahme Kosovos: Mit Blick auf den Katalonien-Konflikt könnte z. B. Spanien eine gemeinsame Erklärung boykottieren.

«Wir brauchen eine Brücke für den Frieden»

Für Idro Seferi zählen aber fast mehr die privaten Reaktionen: «Der Vater meines getöteten Cousins hat das Interview gesehen – und mir geschrieben, dass es ihm gefallen hat.» Auch seine serbischen Freunde meldeten sich mit positiven Reaktionen, selbst diejenigen, die nach dem Krieg aus Peja/Peć nach Belgrad flüchten mussten.

«Das ist ein kleiner Schritt nach vorne,» sagt Idro Seferi: «Wir brauchen eine Brücke zum Frieden hier auf dem Balkan.» Denn der Krieg in den Köpfen hat seit den 1990er Jahren nie richtig aufgehört. Deshalb brauche es auch den schmerzlichen Teil der Auseinandersetzung: «Wir müssen definitiv über die Vergangenheit reden – für unsere Zukunft.»

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