Ein neues KI-Modell soll voraussagen können, wie sich die Krankheitsrisiken einer Person oder einer ganzen Bevölkerung über die Zeit verändern. Es könnte künftig auch den Umgang mit Gesundheitsrisiken verändern, wie der Physiker Moritz Gerstung erläutert. Er gehört zum Forschungsteam.
SRF News: Was soll das neue KI-Modell leisten?
Es analysiert Vorerkrankungen, Alter und Lebensstil einer Person, um daraus die Krankheitsrisiken zu bestimmen und entsprechende Vorhersagen zu machen. Dabei funktioniert das Modell ähnlich wie bekannte Sprachmodelle, zum Beispiel ChatGPT: Es analysiert die vorliegenden Diagnosen als Abfolge von Wörtern und berücksichtigt dabei die zeitliche Abfolge, um dann Vorhersagen über die Zukunft treffen zu können.
Ihr Modell kann Voraussagen zu Hunderten von Krankheiten machen. Wie wurde das KI-Modell trainiert?
Das Modell wurde anhand von Gesundheitsdaten von Teilnehmenden der «UK Biobank» trainiert, einer Forschungskohorte aus Grossbritannien mit einer halben Million Teilnehmenden. Von diesen derzeit rund 70 Jahre alten Personen liegen die Gesundheitsdaten über ihr gesamtes bisheriges Leben vor.
Die Daten aus Grossbritannien wurden mit den Gesundheitsdaten von 1.9 Millionen Däninnen und Dänen validiert.
Daraus konnte das KI-Modell entsprechende Muster über Krankheiten gewinnen. Sie wurden anschliessend mit den Gesundheitsdaten von 1.9 Millionen Däninnen und Dänen validiert. Und es zeigte sich, dass das Modell mit den Daten aus Grossbritannien sehr gut mit den dänischen Daten übereinstimmt.
Bei welchen Krankheiten funktioniert das Modell besonders gut?
Es lassen sich für nahezu alle Krankheiten, die wir analysiert haben, Vorhersagen treffen. Vom über 1000 Krankheiten umfassenden sogenannten ICD-Krankheitskatalog liessen sich bei über 95 Prozent der Diagnosen Vorhersagen treffen. Es stechen dabei keine einzelnen Erkrankungen heraus. Das Modell schwächelt einzig bei seltenen Erkrankungen, wenn nur wenige Fälle vorliegen. Oder wenn klare externe Faktoren vorliegen wie Infektionen oder Ähnliches.
Wie nützlich kann dieses KI-Modell für eine einzelne Patientin oder einen einzelnen Patienten sein?
Zunächst: Bis das Modell im alltäglichen medizinischen Einsatz ist, wird es noch dauern. Noch muss das Modell genauer ausgewertet und validiert – und vielleicht auch noch besser trainiert werden. Danach muss man analysieren, für welche Fälle und bei welchen Krankheiten die Prognosen tatsächlich auch neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen.
Das Modell könnte vielleicht in zehn Jahren im medizinischen Alltag zum Einsatz kommen.
Das könnte etwa in der Krebsvorsorge sein oder bei der Vorsorge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Es muss dann auch in klinischen Studien überprüft werden, ob der Einsatz eines solchen Tools im medizinischen Alltag die erhoffte nützliche Wirkung entfalten kann. Weil das alles einige Zeit dauert, könnte das Modell vielleicht in zehn Jahren im medizinischen Alltag zum Einsatz kommen.
Was kann es mir als Patientin nützen, wenn ich weiss, dass ich in zehn Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkranke, der dann unheilbar ist?
Die Aussagen sind selten so definitiv – trotzdem stellt sich natürlich diese Frage. Deshalb ist ein multidisziplinärer Ansatz nötig, um sehr breit herauszufinden, inwieweit solche Vorhersagemodelle nützlich sein können. Dabei müssen auch psychologische Effekte – etwa Verunsicherung durch mögliche zukünftige Risiken – berücksichtigt werden. Erst wenn das alles untersucht ist, kann man eine vernünftige Abwägung treffen zwischen dem Nutzen und Risiken des breiten Einsatzes eines solchen KI-Modells.
Das Gespräch führte Irene Tiki.