In Strassburg steht ein modernes, rundes Gebäude. Angebaut ist der Versammlungssaal des europäischen Parlamentes, erbaut 1999. Aber das Gebäude steht oft leer. Weil die Plenarsitzungen des Parlaments nur zehnmal im Jahr während vier Tagen dort stattfinden – und weil die meisten EU-Institutionen in Brüssel sind, erklärt EU-Korrespondent Charles Liebherr.
SRF News: Was für einen Aufwand verursacht der monatliche Umzug?
Charles Liebherr: Insgesamt sind es – das hat mal jemand ausgerechnet – 70'000 Arbeitstage pro Jahr. Und das ist einfach nur die Reisezeit.
Wer fährt alles zwischen Brüssel und Strassburg hin und her?
Das sind Übersetzerinnen, persönliche Assistenten der Mitglieder des Europäischen Parlaments und die ganzen Parlamentsdienste. Auch Mitglieder der EU-Kommission und der Verwaltung müssen nach Strassburg. Dort finden neben der Plenarsitzung weitere Ausschusssitzungen statt. Der ganze Tross reist jeweils einmal pro Monat am Montagmittag an und zieht am Donnerstagmittag wieder ab.
Das heisst, nicht alle sind permanent in Strassburg?
Nein, im Gegenteil. Die Mehrheit der Arbeit wird in Brüssel gemacht. Hier gibt es ein riesiges Parlamentsgebäude und auch einen Plenarsaal. Dort finden die meisten Sitzungen der Ausschüsse statt – der Kommissionen, würde man in der Schweiz sagen – die Sitzungen der Fraktionen, der Parteifamilien und aller Untersuchungsausschüsse des Parlamentes. Das Sekretariat hat seinen Sitz in Luxemburg. Auch diese Leute müssen jeweils nach Strassburg. 89 Prozent der Zeit ist der Sitz des Europäischen Parlaments aber einfach leer.
Gibt es Zahlen dazu, wie viel dieses Hin und Her kostet?
Zwischen 100 und 200 Millionen Euro pro Jahr: Das ist die Zahl, die man am häufigsten hört. 180 Millionen Euro ist eine Zahl, die das Parlament selber ausgerechnet hat. Ich gehe von 110 Millionen Euro aus, weil der Rechnungshof dies einmal genau ausgerechnet hat. Er hat berechnet, was die Einsparungen wären, wenn das Parlament nur noch an einem Ort in Brüssel oder in Strassburg tagen würde, und auch alle zu gedienten Dienste dort wären. Dann könnte man jährlich um die 110 Millionen Euro einsparen.
Wieso hat die EU nicht schon längst alles an einem Ort zentralisiert?
Das wäre natürlich der Wunsch der Europa-Parlamentarier. In unzähligen Beschlüssen wurde dieser Wunsch zum Ausdruck gebracht. Das Problem ist aber, dass der Standort Strassburg für die Plenarsitzungen seit 20 Jahren in den Verträgen der EU festgeschrieben ist. Dort steht, dass die Plenarsitzungen – zehn sind es pro Jahr – dort stattfinden müssen.
Man wagt sich einfach nicht, diese heikle Frage noch einmal zu stellen.
Das kann man nur ändern, wenn alle dafür sind. Das müsste durch alle Parlamente der Mitgliedsstaaten. Es könnte zu Referenden kommen. Man wagt sich einfach nicht, diese heikle Frage noch einmal zu stellen.
Es ist anzunehmen, dass sich vor allem ein Land einem Wegzug aus Strassburg widersetzt, nämlich Frankreich...
Richtig. Logischerweise ist das ein Wirtschaftsfaktor in Strassburg. Die Hotels dort leben weitgehend davon, dass neben dem Europarat auch das Europäische Parlament regelmässig Zimmer bezieht. Auch die Restaurants wären gegen einen Abzug. Aber es ist nicht nur Frankreich.
Wenn alles an einen Ort verlegt würde, würden wahrscheinlich auch die Parlamentsdienste aus Luxemburg abgezogen.
Auch Luxemburg würde wahrscheinlich ein Veto einlegen, denn das Grossherzogtum fürchtet einen Präzedenzfall. Wenn alles an einen Ort verlegt würde, würden die Parlamentsdienste wohl ebenfalls aus Luxemburg abgezogen. Darum würde nebst Frankreich auch Luxemburg nicht mitspielen.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.