Das Wichtigste in Kürze
- Seit Samstag ist das Internet-Lexikon Wikipedia in der Türkei gesperrt.
- Grund dafür sind offenbar Einträge, welche der Regierung Erdogan nicht passen.
- Insgesamt seien inzwischen über 100'000 unliebsame Webseiten im Land gesperrt, sagt die Journalistin Luise Samman. Die Zensur sei ziemlich erfolgreich.
SRF News: Wie wird die Sperre des Online-Lexikons Wikipedia in der Türkei begründet?
Luise Samman: Offizielle Begründung gibt es keine. Der Nachrichtensender N-TV berichtet aber, Regierungsvertreter hätten in Hintergrundgesprächen gesagt, der Grund liege in gewissen Wikipedia-Artikeln zur Türkei. Darin stehe, die Türkei würde den Terror unterstützen. Deswegen sei die ganze Webseite gesperrt worden.
Was steht in den umstrittenen Wikipedia-Artikeln?
Das weiss niemand so genau, weil nicht klar ist, welche Artikel im Einzelnen gemeint sind. N-TV berichtet, Wikipedia sei generell eine Informationsquelle, welche die Türkei in der internationalen Informationsarena schlecht mache. Das passt auch zur Politik unter Präsident Recep Tayyip Erdogan der letzten Jahre: Er gibt den Türken das Gefühl, die ganze Welt wolle ihr Land schlecht machen. Demnach sollen sich dunkle Mächte gegen die Türkei verschworen haben. In den Augen der Regierung gehört anscheinend nun auch Wikipedia dazu.
Das Abschalten von Internetseiten in der Türkei hat unter Erdogan schon fast Tradition. Wie zielführend ist dies langfristig für die Regierung?
Das Vorgehen der Regierung hat zwei Aspekte: Einerseits geht es darum, Druck auf Firmen wie Wikipedia, Youtube oder Twitter auszuüben. Der Anteil der jungen Menschen unter den Türken ist sehr gross und sie sind sehr Internet-affin, jeder benutzt hier Facebook. Die Regierung weiss deshalb, dass die Sperrung einer solchen Seite die Betreiberfirma empfindlich trifft. Die türkische Regierung versucht so, die Betreiber zur Löschung von unerwünschten Inhalten zu zwingen. Gerade von Facebook weiss man, dass die Strategie aufgegangen ist. Der US-Konzern kooperiert jetzt mit der türkischen Regierung und gibt viel freimütiger Informationen von Usern weiter.
Die Bevölkerung soll nur das erfahren, was in den offiziellen Medien dargeboten wird.
Andererseits versucht die Regierung, durch das Abschalten von Webseiten die Meinungsbildung im Land zu beeinflussen, was ebenfalls zumindest teilweise gelingt. So tauchten im Zuge der Gezi-Proteste Ende 2013 Videos und Audios im Internet auf, welche angeblich massive Korruptionsmachenschaften von AKP-Mitgliedern dokumentierten. Innert kürzester Zeit blockte die Regierung die Zugänge zu den sozialen Medien, damit sich die Gerüchte nicht weiter ausbreiten konnten. Die Regierung will die Informationen also steuern. Die Bevölkerung soll nur das erfahren, was in den offiziellen Medien dargeboten wird – die offizielle Meinung der Regierung. Denn 70 bis 80 Prozent der Massenmedien stehen unter ihrer Konrolle. Erdogan nützt es also durchaus, wenn er Internetseiten blocken lässt.
Kann man sich in der Türkei zurzeit überhaupt noch unabhängig informieren?
Man kann es, wenn man es gezielt möchte. Jeder Türke kann Wege finden, die blockierten Seiten trotzdem aufzurufen, dazu findet man auch Anleitungen im Internet. Natürlich wird aber nicht jede Hausfrau den Impuls entwickeln, dies tatsächlich zu tun. Es ist eher eine Nische von Aktivisten, die sich dazu entscheiden, nach anderen Informationen zu suchen als jene, welche die Regierung ihnen darbietet.
Die grosse Masse der Türken konsumiert allabendlich die Regierungspropaganda im Sinne Erdogans.
Andererseits gibt es seit einigen Jahren immer mehr unabhängige Gruppen von Aktivisten und geschassten Journalisten, welche im Internet ihre eigenen Plattformen aufbauen. Sie versuchen, mit kritischen Informationen gegen den regierungsgesteuerten Mainstream anzugehen. Die grosse Masse der Türken allerdings konsumiert und rezipiert jene Informationen, welche allabendlich in den Nachrichten laufen – und das ist grossmehrheitlich Regierungspropaganda im Sinne Erdogans.
Wie reagiert die breite Masse auf die Zensur-Eingriffe der Regierung?
Wenn so beliebte Anbieter wie Youtube, Facebook oder Twitter betroffen sind, versuchen sehr viele, eigentlich politisch nicht sehr aktive Türken diese Blockaden zu umgehen, um die Dienste weiter nutzen zu können. Doch bei Wikipedia wird das wohl weniger der Fall sein, weil es ihr Alltagsleben und ihre Kommunikation weniger tangiert. Insgesamt sind in der Türkei mittlerweile mehr als 100'000 Webseiten gesperrt. Da suchen die Türken natürlich nicht in jedem Einzelfall nach einer Strategie, um sie trotzdem aufrufen zu können. Mit jeder weiteren gesperrten Seite wird der Radius an zugänglichen Informationen also einfach ein bisschen kleiner.
Das Gespräch führte Claudia Weber.