Wer in Russland frei seine Meinung äussert, lebt gefährlich. Das erfuhr Marija Aljochina am eigenen Leib. Lange vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine kämpfte sie gegen die zunehmende Repression in Russland – als Mitglied von «Pussy Riot».
Sie bezahlte einen hohen Preis für ihren Protest. Zwei Jahre verbrachte die heute 37-Jährige im Straflager, eineinhalb Jahre trug sie eine elektronische Fussfessel und lebte unter Hausarrest.
Wir sind ausgereist, um die Wahrheit auszusprechen, die in Russland so drakonisch bestraft wird.
In der ZDF-Talkshow «Markus Lanz» berichtete Aljochina von ihrer Flucht. Verkleidet als Essenslieferantin gelangte sie im Mai 2022 über Belarus nach Lettland. Wegen angeblicher Verleumdung der russischen Streitkräfte wurde sie gerade erst zu 13 Jahren Haft verurteilt – in Abwesenheit.
Ihren Widerstand gibt sie nicht auf. «Es gibt viele mutige Russen in Europa. Wir sind ausgereist, um die Wahrheit auszusprechen, die in Russland so drakonisch bestraft wird.»
Bereitmachen für die Zeit nach Putin
Gut zwei Dutzend Oppositionelle haben sich im «russischen Antikriegskomitee» versammelt. Auch Aljochina hat sich der Organisation angeschlossen. Weitere prominente Mitglieder sind etwa der frühere Oligarch Michail Chodorkowski und der Schachweltmeister Garri Kasparow.
Anfang Woche trafen sich die Exilanten zu einer Konferenz in Brüssel. Gesine Dornblüht, langjährige Russland-Korrespondentin des Deutschlandfunks, war dabei.
Bei dem Treffen in Brüssel sei es vor allem um die Zeit nach Putin gegangen, sagt die Journalistin. «Die Oppositionellen wollen vorbereitet sein, wenn sich ein Fenster für einen Wandel in Russland öffnen sollte.»
Warnung an den Westen
Einige sehen Europa in der Pflicht. Der Tenor: Die liberalen Demokratien sollen Stärke zeigen. Das machte Garri Kasparow Anfang Jahr im Interview mit RTS deutlich. «Das Regime muss eine Niederlage erleiden, um das Denken der Bevölkerung zu ändern – und damit auch die Machthaber.»
Das RTS-Interview mit Garri Kasparow (dt. Untertitel)
Im ZDF warnte Aktivistin Aljochina davor, sich Illusionen zu machen. Putin brauche den Krieg und Feinde, im Innern wie im Äussern. «Sonst würden sich die Menschen in Russland fragen, warum sie so schlecht leben.» Ein Angriff auf Berlin? Denkbar.
Ob sich ein «Fenster» für die Oppositionellen öffnet, ist ungewiss. Sie versuchen derweil, sich zu vernetzen, und sehen sich als Gegengewicht zur Propaganda des Kremls. Die Botschaft: Es gibt auch ein anderes Russland. Wie geeint es ist, steht auf einem anderen Blatt.
Zersplitterte Opposition
Die russische Emigrantenszene formiert sich in mehreren, teils zerstrittenen Organisationen. Die «Stiftung zum Kampf gegen Korruption» von Alexej Nawalny, der in einer Strafkolonie umkam, engagiert sich nicht im «Antikriegskomitee».
Kreml-Kritiker Nawalny warf Chodorkowski vor, sich in den 1990ern am korrupten System bereichert zu haben. Diese Zerstrittenheit sei das grosse Manko der russischen Opposition, schätzt Dornblüht. «Und sie hat auch keine Führungsfigur, hinter der sich die Regimegegner versammeln können.»
Wie breit der Widerstand in Russland selbst abgestützt ist, lässt sich kaum abschätzen. Am Treffen in Brüssel sprachen Teilnehmende davon, dass etwa 15 bis 30 Prozent der Russinnen und Russen demokratische Werte teilen würden.
Ein Wert, der für Putin offenbar immer noch zu hoch ist. «Als Geheimdienstler will er hundertprozentige Kontrolle – auch über die Russen im Ausland», schliesst Dornblüht.