Ungewohnte Töne in Kabul: Musik und Zwitschern kommt von der Eisdiele gleich neben dem Vogelgehege. Frauen in ihren blauen Burkas kaufen Kindern ein Eis. Ab und zu heben sie ihren Schleier etwas um selbst davon zu naschen. Es scheint, als wären die strengen gesellschaftlichen Regeln von Afghanistan etwas aufgelockert im Zoo von Kabul.
Mohammad Sahle kommt hauptsächlich wegen seiner Frau und seinen Kindern hierher. Sie mögen die Tiere, sagt er. Während seine beiden Söhne im Terrarium ihre Nasen an der dicken Scheibe plattdrücken, hinter der eine Kobra schläft, haben es seiner Frau vor allem die Singvögel angetan.
Ein bisschen Wärme fürs Herz
Viele dieser Vögel, gäbe es nicht bei ihnen zu hause. Ihr Gesang erfülle ihr Herz mit Freude, sagt sie. Die Familie stammt aus der Provinz Takhar, im Norden Afghanistans, in der Nähe von Kundus. Lange galt der Norden als sicher, doch nach dem Ende des Nato-Kampfeinsatzes wurde Kundus zweimal von den Taliban angegriffen, einmal sogar kurzzeitig eingenommen. Tausende sind in die Hauptstadt geflohen. In Afghanistan leben heute über 400'000 intern Vertriebene. Darunter auch die Familie von Mohammad Sahle.
Der Zoo sei für sie ein Ort um das Trauma des Krieges zu vergessen, sagt eine Frau. Sie habe schreckliche Bilder im Kopf vom Krieg. Wenn sie den Vögeln hier zuhöre, verschwänden die Bilder für eine Weile, sagt die Frau. Ihr Mann versucht derweilen mit Pfeifen einen Kakadu zum Singen zu bringen. Mit mässigem Erfolg.
Der Löwe, der einen Mujaheddin tötete
Neben Vögeln und Schlangen zeigt der Zoo auch Bären, Pferden, Hasen und ein Schwein. Das einzige in ganz Afghanistan. Die Auswahl an Tieren ist überschaubar. Exotische Tiere wie Giraffen oder Elefanten findet man hier nicht. Zu aufwändig sei deren Pflege, erklärt Zoodirektor Aziz Gul Saqib.
Er versuche mehr Tiere – auch ausländische – in die Anlage zu bringen und sei bemüht, den Zoo so attraktiv wie möglich zu machen, beteuert der Direktor. Der Zoo wurde in den 1960er Jahren gegründet und hatte einst über 500 Tierarten. Während des Bürgerkriegs in den 1990ern verendeten aber viele Tiere oder landeten in den Kochtöpfen der Kämpfer. Damals hatte der Zoo sogar einen Löwen: Marjan war sein Name, erinnert sich der Zoodirektor.
Der Legende nach soll er einen Mujaheddin getötet haben, der als Mutprobe in das Löwengehege gestiegen war. Der Bruder des Mannes rächte sich aber mit einer Handgranate, die er dem Tier ins Essen gepackt haben soll. Bei der Detonation soll Marjan alle seine Zähne sowie das Augenlicht verloren haben. Doch der Löwe überlebte – und wurde dadurch zum Sinnbild der afghanischen Zähigkeit. Marjan starb 2002 nach dem Ende der Taliban-Zeit. Dem Tier wurde am Eingang des Zoos gar eine Statue aus Bronze gewidmet.
Ein Ort für Paare…
Mit seinen verwinkelten Pfaden ist der Zoo auch ein Rückzugsort für junge Paare. Abseits sitzen sie irgendwo auf einer Bank oder einer Mauer und plaudern. Wie das Paar Abdullah und Rukhil aus Bamiyan. Nein, um Tiere anzuschauen seien sie nicht gekommen, sagt Abdullah.
Sie kämen hierher um die Ruhe zu geniessen und um ein paar ungestörte Momente zu verbringen. Denn in einer Stadt, in der man fast täglich mit Bombenanschlägen rechnen müsse, könne man nicht einmal fünf Minuten in Ruhe sitzen und miteinander reden.
… und Jugendliche
Abdullah und Rukhil gehören zur schiitischen Minderheit in Afghanistan. Der Islamische Staat hat die Schiiten in letzter Zeit vermehrt zum Ziel genommen. Im Oktober dieses Jahres starben 30 Menschen bei einem Angriff auf eine schiitische Moschee in Kabul, letztes Jahr explodierte eine Bombe mitten in einer Grossdemonstration von Schiiten und riss über 80 Menschen in den Tod. In Afghanistan passiere so viel Ungerechtigkeit, sagt Abdullah und schüttelt den Kopf.
Doch Schutz von der Regierung erwarte er keinen. Die Politiker würden nur für ihr eigenes Wohl sorgen. Sie interessierten sich nur für ihr Geld und ihre Macht. Rukhil, die neben Abdullah sitzt, bemängelt, dass es in Kabul praktisch keine Orte gebe, wo sich junge Menschen treffen könnten. Ausser dem Zoo gebe es keine Alternativen.
Doch sie wolle sich nicht beklagen, sie sei froh, dass es immerhin den Zoo gebe. Und so bietet dieser für viele Afghanen einerseits eine Auszeit um die Erinnerung von Krieg und Vertreibung zu vergessen. Andererseits ist er wohl der einzige Ort in Kabul, der jungen Afghanen so etwas wie Intimität bietet.