In diesen Stunden diskutiert das britische Unterhaus über die Zukunft nach dem Brexit. Das ist nicht weiter bemerkenswert. Aber die Debatte findet gegen den ausdrücklichen Willen der gewählten Regierung statt. Die Parlamentarier haben vorgestern beschlossen, ihre eigenen Geschäfte selbst zu regeln.
Am 20. April 1653 beschimpfte der Diktator Oliver Cromwell die Mitglieder des britischen Unterhauses als «schmutzige Prostituierte» und «korrupte Sklaven». Er schloss seine Attacke mit den Worten: «In God’s name, go!» – «Raus!» und löste das Parlament, das drei Jahre zuvor die Exekution von König Charles dem Ersten ermöglicht hatte, auf.
Souverän wie noch nie
Heute geht es gesitteter zu, gewiss. Aber das Kräftespiel der verfassungsmässigen Ordnung wurde ebenfalls umgestülpt. Natürlich, im britischen System ist das Parlament – mit Zustimmung der Krone – souverän. Aber die Regierung, die nicht ein Exekutiv-Ausschuss des Parlaments ist, sondern ein beratendes Organ der Königin, bestimmt über die Tagesordnung und die Abläufe. Die Abgeordneten genehmigen oder verwerfen oder sie ändern, aber sie können letztlich keine Gesetzesvorlagen «erfinden». Bis heute.
Zum Zuschauen verdammt
Die Regierung von Theresa May – eine Minderheitsregierung mit höchst launischen, nordirischen Verbündeten – ist verdammt, ohnmächtig zuzuschauen, während das Unterhaus eine alternative Zukunft auslotet. Das Kabinett und die Fraktionen sind gespalten und rebellisch, das verschobene Brexit-Datum liegt 16 Tage entfernt.
May sucht unverzagt nach einer Mehrheit für ihre Scheidungsabkommen mit der EU, doch die Parlamentarier sind an einem anderen Ort. Verbunden mit dem Scheidungsabkommen wurde ja auch eine so genannte Politische Erklärung mit der EU vereinbart. Hier geht es um das endgültige, künftige Verhältnis.
Doch das Papier ist inhaltsleer und hohl. Dieses Vakuum wollen die Abgeordneten endlich füllen. Denn wenn das Haus sich für eine enge Anlehnung an die EU entschiede, wären die Regelungen über die irische Grenze nicht mehr relevant.
Der heutige Prozess ist ergebnisoffen. Am nächsten Montag sollen die aussichtsreichsten Szenarien nochmals ausgesiebt werden. Sollte die Regierung sich nicht beugen, hat das Unterhaus durchaus die Kompetenz, verbindliche Gesetze zu erlassen.
Brexiteers hätten es in der Hand
Das grosse Paradox dieser beispiellosen Lage liegt auf der Hand: Das weitgehend aus pro-europäischen Abgeordneten bestehende Unterhaus erzwingt eine Kursänderung, hin zum Europäischen Binnenmarkt und zur Zollunion oder gar zum Widerruf des Austritts.
Das treibt die Anhänger eines rabiateren Brexit auf die Barrikaden. Sie hätten es in der Hand, Theresa Mays Scheidungsabkommen zu unterstützen. So erhielten sie wenigstens einen Brexit und könnten ihre Schlachten weiter ausfechten. Aber der Brexit hat längst die Arena des vernünftigen Diskurses verlassen und ist zum Totem der Identitätspolitik geworden, ja, nahezu zur Religion.