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Zum Tod von Desmond Tutu Jean Ziegler: «Tutu hat in Südafrika den Bürgerkrieg verhindert»

Das Leben und Wirken des verstorbenen Desmond Tutu sei aussergewöhnlich. Ein Mensch, der einem in Erinnerung bleibt, sagt Jean Ziegler. Der langjährige SP-Nationalrat und emeritierte Soziologie-Professor hat Desmond Tutu mehrmals persönlich in Südafrika getroffen.

Beisetzung in Kapstadt am 1. Januar

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Nach dem Tod von Desmond Tutu werden in Südafrika die Flaggen an öffentlichen Gebäuden auf halbmast gesetzt. Präsident Cyril Ramaphosa hatte dies in einer Rede am späten Sonntagabend angekündigt. Darin würdigte er Tutu erneut als «einen der Mutigsten unter uns».

Tutus Stiftung kündigte die Beisetzungsfeierlichkeiten für den 1. Januar in Kapstadt an. Diese sollen um 10 Uhr Ortszeit in der St. Georgs-Kathedrale beginnen. Am Vortag werde den Menschen Gelegenheit gegeben, sich dort vom aufgebahrten Tutu verabschieden zu können. Seine Asche soll später in einem Mausoleum innerhalb der Kathedrale beigesetzt werden.

Gedenkveranstaltungen soll es auch in den Nachbarländern Namibia, Botswana, Lesotho oder Eswatini geben.

Im Gespräch mit der «Tagesschau» erinnert sich Ziegler an diese Begegnungen und beschreibt die Bedeutung von Tutu für Südafrika.

Jean Ziegler

Soziologieprofessor em. Politiker und Autor

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Jean Ziegler, als Hans Ziegler in Thun 1934 geboren, ist Soziologe, Politiker und Sachbuch- und Romanautor. Er war bis 2002 Professor für Soziologie an der Universität und ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Von 1967 bis 1983 und von 1987 bis 1999 war er Nationalrat der SP für den Kanton Genf. Ab 2000 war Ziegler UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und Mitglied der UNO-Task Force für humanitäre Hilfe im Irak.

«Desmond Tutu war ein ausserordentlich sympathischer, warmherziger und sehr, sehr kluger Mann. Ich habe ihn nahe kennengelernt im April und Mai 1994 bei der Machtübernahme, also bei den ersten offenen legitimen Wahlen in Südafrika. Damals war ich Assistent bei der UNO-Mission, die diese Wahlen überwacht hat.

Dort habe ich Desmond Tutu fast täglich bei den Arbeitssitzungen getroffen. Tutu hat eine unglaublich bedeutende historische Rolle gespielt im Kampf der schwarzen Bevölkerung für die Demokratie und die Freiheit gegen eine fürchterliche Rassendiktatur, die 1948 begonnen und 1994 erst geendet hat.»

Drei zentrale Momente

«Tutu hat in drei Momenten eine ganz wichtige Rolle gespielt: Erstens war er Seelsorger in der Universität Fort Hare, die einzige Universität, wo die jungen schwarzen Intellektuellen zur Schule gingen. Dort hat er seinen ganz persönlichen Einfluss ausgeübt – auch auf Mandela, Mbeki, auf Zuma, also auf alle die jungen Männer, die später an die Macht kamen.

Dann hat er 1984 den Friedensnobelpreis erhalten, wurde 1986 der erste schwarze Erzbischof von Südafrika. Das war ein wichtiger Moment, weil zu dieser Zeit im Kalten Krieg, im Westen und vor allem in den USA, der ANC (African National Congress), die Widerstandsbewegung, als kommunistisch verschrien war. Es gab viele Kommunisten im ANC, aber es war eine nationalistische Bewegung.

Und da kam dieser Desmond Tutu: Ein Erzbischof, ein Christ, ein Friedensnobelpreisträger, und er war das Sprachrohr des ANC und hat die westlichen Regierungen weitgehend überzeugt, dass der ANC eine pluri-klassistische, also eine vielfältige Befreiungsbewegung war und keine kommunistische. Das hat dazu geführt, dass sich sogar die USA unter Präsident Ronald Reagan der Boykott-Bewegung angeschlossen haben. Dieser Moment war essenziell für den damals bevorstehenden Wahlsieg des ANC.»

Einen Bürgerkrieg verhindert

«Und schliesslich, drittens, ganz wichtig: Tutu hat in Südafrika einen Bürgerkrieg verhindert. Der ANC hat die Wahlen 1994 mit über 70 Prozent der Stimmen gewonnen, und Tutu hat die Wahrheits- und Wiedergutmachungskommissionen gegründet. Diese bestanden im ganzen Land und funktionierten so, dass sich die Opfer des Apartheidregimes versammelten. Dann mussten die Täter Beichte ablegen und sich entschuldigen. Wenn sie das taten und die Opfer oder deren Nachkommen befriedigt waren, wurden sie wieder integriert in die Gesellschaft.

Wenn sie negierten oder Morde begangen hatten, wurden sie an die regulären Gerichte überstellt und nach einem Prozess und der Strafe erst später integriert. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen: Wie viel Hass diese Apartheitregierung mit ihrem Geheimdienst und ihren Folterknechten auf sich geladen hat. Der Hass war überall in all den geschlagenen Familien vorhanden. Und trotz dieser Schmerzen ist es gelungen, eine individuelle oder kollektive Rachejustiz zu verhindern. Dies dank der Wahrheitskommissionen, eingeführt von Tutu, organisiert von ihm und seinen Leuten. Sie haben den friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie ermöglicht.»

Universität Freiburg: Besondere Verbindung zu Desmond Tutu

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Die Universität Freiburg war 1999 die erste Schweizer Universität, die Desmond Tutu den Ehrendoktortitel verlieh. Adrian Holderegger war damals Dekan der Theologischen Fakultät und treibende Kraft hinter der Ehrung. Desmond Tutu sei damals eine sehr bekannte Persönlichkeit gewesen, die den friedlichen Übergang vom Apartheid-Regime in eine mehr oder weniger friedliche Republik garantiert hat. «Die Theologische Fakultät hatte zu dieser Zeit einen Schwerpunkt in der Befreiungstheologie. Und was lag näher, als Desmond Tutu hier miteinzubeziehen?», begründet Holderegger die Ehrung.

Innerhalb der Theologischen Fakultät und der Gesamtuniversität sei die Titelverleihung unumstritten gewesen. Aber bei der Verleihung habe es eine Demonstration von Studierenden ausserhalb der Universität gegeben. Sie hätten dieses Anliegen nicht nur unterstützt, sondern auch darauf aufmerksam machen wollen, «dass die offizielle Schweiz sich der Geschichte mit dem Apartheid-Regime in Südafrika stellen sollte».

«Der Doktortitel war auch ein politisches Zeichen», sagt Adrian Holderegger. «Ende der 90er Jahre wurde in der Schweiz heftig diskutiert, wie die Geschichte mit Südafrika aufgearbeitet werden sollte. Die einen wollten eine Art parlamentarische Untersuchungskommission einsetzen. Die anderen wollten das auf diplomatischem Wege lösen.» In dieser Diskussion habe man ein Zeichen setzen wollen: «Ähnlich wie sich damals Desmond Tutu in seiner Wahrheitskommission der Wahrheit der ganzen Apartheid-Geschichte stellte, so sollte sich auch die Schweiz dieser Wahrheit stellen.»

Tagesschau, 26.12.2021, 19:30 Uhr ; 

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