Das Leben und Wirken des verstorbenen Desmond Tutu sei aussergewöhnlich. Ein Mensch, der einem in Erinnerung bleibt, sagt Jean Ziegler. Der langjährige SP-Nationalrat und emeritierte Soziologie-Professor hat Desmond Tutu mehrmals persönlich in Südafrika getroffen.
Im Gespräch mit der «Tagesschau» erinnert sich Ziegler an diese Begegnungen und beschreibt die Bedeutung von Tutu für Südafrika.
«Desmond Tutu war ein ausserordentlich sympathischer, warmherziger und sehr, sehr kluger Mann. Ich habe ihn nahe kennengelernt im April und Mai 1994 bei der Machtübernahme, also bei den ersten offenen legitimen Wahlen in Südafrika. Damals war ich Assistent bei der UNO-Mission, die diese Wahlen überwacht hat.
Dort habe ich Desmond Tutu fast täglich bei den Arbeitssitzungen getroffen. Tutu hat eine unglaublich bedeutende historische Rolle gespielt im Kampf der schwarzen Bevölkerung für die Demokratie und die Freiheit gegen eine fürchterliche Rassendiktatur, die 1948 begonnen und 1994 erst geendet hat.»
Drei zentrale Momente
«Tutu hat in drei Momenten eine ganz wichtige Rolle gespielt: Erstens war er Seelsorger in der Universität Fort Hare, die einzige Universität, wo die jungen schwarzen Intellektuellen zur Schule gingen. Dort hat er seinen ganz persönlichen Einfluss ausgeübt – auch auf Mandela, Mbeki, auf Zuma, also auf alle die jungen Männer, die später an die Macht kamen.
Dann hat er 1984 den Friedensnobelpreis erhalten, wurde 1986 der erste schwarze Erzbischof von Südafrika. Das war ein wichtiger Moment, weil zu dieser Zeit im Kalten Krieg, im Westen und vor allem in den USA, der ANC (African National Congress), die Widerstandsbewegung, als kommunistisch verschrien war. Es gab viele Kommunisten im ANC, aber es war eine nationalistische Bewegung.
Und da kam dieser Desmond Tutu: Ein Erzbischof, ein Christ, ein Friedensnobelpreisträger, und er war das Sprachrohr des ANC und hat die westlichen Regierungen weitgehend überzeugt, dass der ANC eine pluri-klassistische, also eine vielfältige Befreiungsbewegung war und keine kommunistische. Das hat dazu geführt, dass sich sogar die USA unter Präsident Ronald Reagan der Boykott-Bewegung angeschlossen haben. Dieser Moment war essenziell für den damals bevorstehenden Wahlsieg des ANC.»
Einen Bürgerkrieg verhindert
«Und schliesslich, drittens, ganz wichtig: Tutu hat in Südafrika einen Bürgerkrieg verhindert. Der ANC hat die Wahlen 1994 mit über 70 Prozent der Stimmen gewonnen, und Tutu hat die Wahrheits- und Wiedergutmachungskommissionen gegründet. Diese bestanden im ganzen Land und funktionierten so, dass sich die Opfer des Apartheidregimes versammelten. Dann mussten die Täter Beichte ablegen und sich entschuldigen. Wenn sie das taten und die Opfer oder deren Nachkommen befriedigt waren, wurden sie wieder integriert in die Gesellschaft.
Wenn sie negierten oder Morde begangen hatten, wurden sie an die regulären Gerichte überstellt und nach einem Prozess und der Strafe erst später integriert. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen: Wie viel Hass diese Apartheitregierung mit ihrem Geheimdienst und ihren Folterknechten auf sich geladen hat. Der Hass war überall in all den geschlagenen Familien vorhanden. Und trotz dieser Schmerzen ist es gelungen, eine individuelle oder kollektive Rachejustiz zu verhindern. Dies dank der Wahrheitskommissionen, eingeführt von Tutu, organisiert von ihm und seinen Leuten. Sie haben den friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie ermöglicht.»