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Zweite Coronawelle in Israel «Leute, die sich in Quarantäne begeben sollten, tun es nicht»

Israel fährt das öffentliche Leben teilweise wieder herunter. Man müsse eine Kehrtwende machen, um einen umfassenden Lockdown zulasten der Wirtschaft zu verhindern, erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Am Freitag hatte die Zahl der Infektionen innert 24 Stunden erstmals die Marke von 1000 überschritten – bei gut neun Millionen Einwohnern. Gisela Dachs, Journalistin in Tel Aviv, sieht vor allem Probleme beim Contact-Tracing.

Gisela Dachs

Journalistin in Israel

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Die gebürtige Deutsche arbeitet als Journalistin und Publizistin in Israel. Sie ist zudem Professorin am DAAD Center for German Studies und dem European Forum an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Sie lebt seit mehr als zwei Jahrzehnten mit ihrer Familie in Israel.

SRF News: Bars, Nachtclubs, Fitnesscenter und Schwimmbäder müssen wieder schliessen. Zieht die israelische Regierung die Notbremse?

Gisela Dachs: Ja. Der Trend zeichnet sich schon seit Wochen ab, seit mehreren Tagen noch viel stärker. Die Kurve steigt, und man will unbedingt Menschenansammlungen, so wie man sie die letzten Tage gesehen hat, bei den Sommerferien am Strand oder auch sonst bei den Leuten zu Hause, verhindern, damit sich das Virus nicht noch weiter ausbreitet.

Die Fallzahlen steigen in Israel wieder. Weshalb?

Die Leute hatten an sich gut durchgehalten. Es gab einen sehr strengen Lockdown hier, aber dann wurde gefeiert. Die Leute haben gedacht, wir lassen das jetzt hinter uns und stürzen uns wieder ins Alltagsleben. Möglicherweise kamen die Lockerungen zu schnell. Laut Statistik finden 43 Prozent der Ansteckungen wohl zu Hause statt, bei Familienfeiern und anderen Partys. Man hat zwar die Strafe erhöht für jene, die die Maske auf der Strasse nicht tragen. Aber das hat anscheinend noch nicht gefruchtet.

Wie kommen diese neuen Verschärfungen in der Bevölkerung an?

Die meisten Menschen haben Angst vor den wirtschaftlichen Nöten und halten sich möglicherweise auch deshalb nicht unbedingt an alle Forderungen. Kommt hinzu: Es gibt einen Unmut gegenüber der Regierung, die kein klares Krisenmanagement an den Tag gelegt hat. Es gab keine klaren Anweisungen. Was darf man noch, was nicht mehr? Was geht wieder? In der Bevölkerung herrscht auch Zorn darüber, dass Wirtschaftshilfen nicht gesprochen wurden, nicht schnell genug überwiesen worden sind.

Die Anzahl der Neuansteckungen steigt nun wieder an. Man geht aber davon aus, dass die Zahlen eigentlich noch viel höher liegen. Weshalb?

Was in Israel bisher sehr gering war, ist die Zahl der Toten mit etwas über 300. Es sind auch nur wenige Leute in Intensivbehandlung. Das mag dazu geführt haben, dass man eher locker damit umgegangen ist. Das Hauptproblem hier aber ist die Quarantäne. Man geht davon aus, dass drei Viertel aller Leute, die sich eigentlich in Quarantäne begeben sollten, es nicht wirklich tun.

Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit sehr, sehr viel höher.

Das heisst, Menschen, von denen man nicht weiss, ob sie Überträger sind oder nicht, laufen draussen herum. Tests wurden nicht schnell genug gemacht und nicht in grosser Zahl. Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit sehr, sehr viel höher als die Zahlen, die man vorliegen hat.

Das ist eines der Probleme. Es gab nicht genug Personal, um die Infektionsketten zu überprüfen und zu wissen, wer vor 10 oder 14 Tagen wo war. Das heisst, bis man die Leute, die im selben Raum waren, benachrichtigt hatte, war oft schon über eine Woche verstrichen. Jetzt hat man das Contact-Tracing wieder aktiviert. Es gibt keine App, das geht über den Geheimdienst.

Leute, die eigentlich ein SMS hätten bekommen sollen, haben keins gekriegt.

Da sind auch Fehler passiert. Das heisst, Menschen bekamen eine SMS, dass sie in der Nähe eines Infizierten waren, obwohl sie allein zu Hause waren. Andere, die eigentlich eine SMS hätten bekommen sollen, haben keine gekriegt. All diese Dinge müsste man jetzt erst mal aufarbeiten.

Das Gespräch führte Claudia Weber.

SRF 4 News, 07. Juli 2020, 08:40 Uhr ; 

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