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Interview zum 90. Geburtstag Jean Ziegler: «Der Hunger ist der absolute Skandal unserer Zeit»

Jean Ziegler war Politiker, Professor für Soziologie und UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung (2000–2008). Er wurde am Freitag 90 Jahre alt. SRF sprach mit ihm über seinen unermüdlichen Kampf gegen das Leid der Menschen wegen mangelnder Nahrung.

Jean Ziegler

Soziologieprofessor em. Politiker und Autor

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Jean Ziegler, als Hans Ziegler in Thun 1934 geboren, ist Soziologe, Politiker und Sachbuch- und Romanautor. Er war bis 2002 Professor für Soziologie an der Universität und ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Von 1967 bis 1983 und von 1987 bis 1999 war er Nationalrat der SP für den Kanton Genf. Ab 2000 war Ziegler UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und Mitglied der UNO-Task Force für humanitäre Hilfe im Irak.

SRF: Was ist der tägliche Antrieb, dass Sie mit 90 Jahren immer noch so aktiv sind?

Jean Ziegler: Der Hunger ist meiner Ansicht nach der absolute Skandal unserer Zeit. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Fast eine Milliarde von den insgesamt acht Milliarden Menschen auf der Welt haben Hunger. Nicht der kapitalistische Markt sollte darüber entscheiden, wer Zugang hat und wer nicht.

Macht das auch ohnmächtig?

Bertolt Brecht hat gesagt: Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren. Der Hunger ist menschengemacht und kann mit ein paar Reformen aus der Welt geschaffen werden.

Legende: Jean Ziegler kämpft auch noch mit 90 Jahren gegen den Hunger in der Welt. Keystone / OLIVIER MAIRE

Woher nehmen Sie die Kraft, weiterhin gegen den Hunger in der Welt anzukämpfen?

Wenn ich nicht kämpfen würde, könnte ich mich nicht mehr im Spiegel anschauen. Ich bin privilegiert. Ich lebe in einem freien Land, kann kämpfen und Transparenz schaffen, kann Konzerne, die verantwortlich sind, beim Namen nennen. Ich habe nicht mehr Kraft als andere, aber es ist das Gefühl für die Verantwortung.

Das einzige, was uns von den Opfern trennt, ist der Ort der Geburt. Und dieser ist reiner Zufall.

Das Kind, das an Hunger leidet und stirbt, könnte mein Kind sein. Das einzige, was uns von den Opfern trennt, ist der Ort der Geburt. Und dieser ist reiner Zufall.

Auf der Welt gibt es unzählige Brandherde. Der Krieg in Gaza ist nur ein Beispiel. Wie gehen Sie mit der aktuellen Weltlage um?

Sie haben absolut recht, so schlimm war es noch nie auf dieser Welt. Nehmen wir das Beispiel Gaza: Nach dem schweren Angriff der Hamas im Oktober hatte Israel der Hamas den Krieg erklärt. Doch Israel führt auch einen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung, die mit der Hamas überhaupt nichts zu tun hat. Über 40'000 Menschen sind gestorben. Davon sind 70 Prozent Frauen und Kinder. Dazu kommt der Hunger. Tausende Kinder in Gaza sterben aufgrund der israelischen Nahrungsblockaden. Es sollte einen Weltaufstand geben, um die Nahrungsblockaden sofort zu stoppen und einen sofortigen Waffenstillstand sowie die Freilassung der Geiseln zu fordern.

Diese unfreiwillige Komplizenschaft ist etwas Fürchterliches und Schändliches für unser Land.

Ganz schlimm ist die Rolle der Schweiz, die eine unfreiwillige Komplizenschaft mit dem Völkermord hat. Die Schweiz hat eine intensive Rüstungszusammenarbeit mit dem israelischen Waffenkonzern Elbit und entwickelt mit Israel Waffen, finanziert mit Schweizer Steuergeldern. Diese unfreiwillige Komplizenschaft ist etwas Fürchterliches und Schändliches für unser Land.

Sie haben mit «Wie kommt der Hunger in die Welt» ein Buch über den Hunger in der Welt geschrieben. Wie wichtig ist Ihnen dieses Buch?

Bücher sind die einzigen Waffen, die ich habe. In Demokratien gibt es keine Ohnmacht. Was zählt, ist die öffentliche Meinung, das Bewusstsein der Menschen. Meine Bücher sollen dazu beitragen, dass dieses Bewusstsein und damit das Gewissen erwacht. Menschen in Demokratien sollen verlangen, dass Reformen durchgeführt werden und dass der Hunger verschwindet. Und dass nicht länger zehn Grosskonzerne, die über 85 Prozent der Nahrungsmittel auf der Welt verfügen, nicht allein entscheiden, wer isst und lebt und wer keinen Zugang hat zu Nahrung, weil er keine Kaufkraft hat.

Das Gespräch führte Sirio Flückiger.

SRF 1, 19.4.2024, 6:23 Uhr ; 

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