- Nur etwa die Hälfte aller Kranken hält sich an die Vorgaben ihrer Therapie. Je nach Art der Erkrankung sind es noch viel weniger.
- Forscher arbeiten an immer smarteren Hilfsmitteln wie Pillen mit Mikrochips und einfacher anzuwendenden Medikamenten.
- Ärzte versuchen, Behandlungen möglichst gut auf die Eigenheiten ihrer Patienten anzupassen.
Was haben tote Vögel mit widerspenstigen Patienten zu tun? Eine ganze Menge.
Basel, 1964. Im Park einer Herzklinik trägt sich ein Vogelsterben zu, das mit natürlichen Ursachen nicht mehr zu erklären ist. Autopsien ergeben: Die Tiere sind an einer Digitalis-Vergiftung verendet – einer Überdosis Fingerhut. Von der gefährlichen Pflanze lassen Vögel normalerweise mit gutem Grund den Schnabel. Wie also ist das Gift in ihre Körper gelangt?
Die folgende Spurensuche zeigt: Auffällig viele Kadaver liegen auf der Gebäudeseite mit den Patientenzimmern. Zwischen den Grashalmen finden sich Digoxin-Tabletten. Digoxin wird aus Fingerhut gewonnen und zur Behandlung von Herzschwächen und Herzrhythmusstörungen eingesetzt.
Des Rätsels Lösung: Manche Patienten warfen die Pillen lieber aus dem Fenster, als sie wie verschrieben einzunehmen. Was nicht nur ihren eigenen Behandlungserfolg in Frage stellte, sondern auch das Schicksal diverser hungriger Vögel besiegelte.
Arzt verordnet, Patient gehorcht (nicht)
Das Wissen, dass sich Patienten früher oder später nicht mehr an eine Therapie halten, ist so alt wie die Medizin selber. Eine WHO-Studie geht davon aus, dass in nicht weniger als 50 Prozent aller Fälle Medikamente nicht eingenommen werden. Andere Untersuchungen kommen je nach Erkrankung sogar auf bis zu 80 Prozent.
In den 1970er Jahren begann man sich mit dem Phänomen systematisch zu befassen und gab ihm einen sprechenden Namen: «Non Compliance».
Das englische Wort Compliance bedeutet so viel wie Einhaltung oder Fügsamkeit . Was klar macht, welche Geisteshaltung dahinter steckt: So lange der Patient sich den ärztlichen Anweisungen fügt, wird alles gut. Folglich ist es in der Verantwortung des Patienten, gehorsam zu sein und der Therapie treu zu bleiben.
Wie aber bringt man jemanden dazu, seine Medikamente möglichst zuverlässig einzunehmen? Welche Hilfsmittel kann man ihm anbieten? Wie lässt sich die Einnahme kontrollieren?
Die Forschung bietet laufend neue Lösungen an: Smartphone-Apps und schlaue Pillendosen erinnern an die Medikamenteneinnahme, Mikrochips in Pillen vermelden ihre Einnahme elektronisch. Ausgeklügelte Kombipräparate reduzieren die Anzahl der täglich einzunehmenden Tabletten.
Zehn Faktoren, die die Therapietreue negativ beeinflussen:
Seit der «mündige Patient» den «Halbgott in Weiss» vom Podest gestossen hat, steht ein neuer Begriff im Raum: Adherance.
Das englische Wort (deutsche Variante: «Adhärenz») bedeutet befolgen, an etwas festhalten und verschiebt den Fokus vom Einhalten einer einseitigen Verordnung auf das beidseitige Festhalten an einer Therapieverordnung, die auf die individuellen Möglichkeiten des Patienten bestmöglich Rücksicht nimmt.
Was zum neusten Schlagwort führt: Concordance (Übereinstimmung), der partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Medizinpersonal und Patient. Die Behandlung wird gemeinsam erarbeitet und der kranke Mensch bei den Bemühungen zu seinem eigenen Besten aktiv in Planung und Durchführung einbezogen.
Leidensdruck entscheidet
Auch wenn der Patient mittlerweile also auf Augenhöhe an seiner Genesung mitwirken kann: Mit der Therapietreue ist es nach wie vor nicht sonderlich weit her. Es bedarf schon besonders bedrohlicher oder täglich plagender Leiden wie HIV, Rheuma oder Krebs, um mindestens 80 Prozent der Patienten bei der Stange zu halten.
Wieso? Es liegt wohl einfach in der Natur des Menschen. Was wir nicht spüren und uns nicht unmittelbar bedroht, verliert über kurz oder lang seinen Schrecken. Und wenn das Vertrauen zum Arzt oder Medikament fehlt, sind wir schnell bereit, eigenmächtig zu handeln. Worunter manchmal Vögel leiden, aber weit häufiger wir selbst.