Dass die Ärzte den verunfallten ehemaligen Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher aus dem Koma aufwachen lassen wollen, weckt Hoffnungen. Aber alle Prognosen über seine Verfassung und Genesungschancen bleiben spekulativ, meint der Neurologe Professor Andreas Luft vom Unispital Zürich.
Betroffene ehemalige Patienten sind sich im «Club» in diesem Punkt einig: Es ist nach einem solchen Unfall nichts mehr wie vorher. Daniel Albrecht stürzte im Januar 2009 bei einem Ski-Weltcup-Rennen und erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT):
Am Anfang, wenn man das erste Mal erwacht, weiss man gar nichts. Es geht lange, bis man sich fragt, wie man heisst oder wie alt man ist.
Bezugspersonen sind entscheidend für die Genesung
Am Anfang sind Ärzte und Pflegepersonal anwesend und natürlich die Angehörigen. Aber zu Beginn habe er diese Menschen lediglich als «positive» oder «negative» einteilen können, sagt Albrecht. Eine echte Bezugsperson ergebe sich mit der Zeit, aber man könne nur zu einer Person einen echten Bezug herstellen, zu viele Menschen seien zu anstrengend.
Die Beziehung zu einem Menschen war auch für Thomas Scherer als Patient eine der wichtigsten Erfahrungen nach seinem Unfall. Vor 14 Jahren war er aus einem Fenster gestürzt. Der Umweltwissenschaftler fährt aber heute wieder Fahrrad und steigt auf Berge.
Jeden Tag war es das Highlight, wenn am Abend meine Frau zu Besuch kam und mit mir sprach. Es ist extrem wichtig, dass dies stattfindet.
Jean-François Gächter wurde 2003 Opfer eines Überfalls mitten in der Stadt Basel und zog sich beim Sturz auf die Strasse ein Schädel-Hirn-Trauma zu. Der Übergang vom Koma zum Wachkoma und der Wahrnehmung von Angehörigen verlief sehr langsam:
Man kommt zu sich in langsamen Stufen. Ich habe nur abschnittsweise Erinnerungen nach dem Wachkoma.
In dieser Phase sind für alle Betroffenen die nächsten Angehörigen die wichtigsten Bezugspersonen. Monique Gächter, die Mutter von Jean-François, machte die Erfahrung, dass das Fachpersonal im Spital mit allen medizinischen oder therapeutischen Tätigkeiten vollständig ausgelastet ist. Einen vertieften Bezug zum Patienten könnten nach dem Koma über die Zeit eigentlich nur die Angehörigen aufbauen:
Die Erinnerungen können nur Angehörige beim Patienten wieder herstellen. Von 10 bis 22 Uhr war immer jemand aus der Familie bei Jean-François.
Alles neu erlernen wie ein kleines Kind
Wenn nach der schweren Kopfverletzung und dem Koma das Bewusstsein langsam wieder Zusammenhänge und Bezugspersonen erkennt, stellt sich ein weiteres Problem bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma ein: die Sprache. Je nachdem welche Gehirnregion verletzt wurde, ist sehr oft auch die Sprachfähigkeit gestört, erklärt Andreas Luft, Professor für klinische Neurorehabilitation, der am Universitätsspital Zürich arbeitet.
Diese Sprachstörung, Aphasie genannt, äussert sich in Wortverwechslungen und dass man nicht mehr versteht, was der andere sagt.
Schwierig werde es darum, weil der Patient von seiner Umgebung abgeschottet wird und man keinen Zugang mehr zu ihm findet. Dies kann sich dann beim Patienten in grosser Frustration äussern, weil ihn niemand versteht.
Diese Schwierigkeit erlebten alle ehemaligen Betroffenen. Sie mussten alle wieder reden lernen. Man verwende am Anfang die falschen Wörter und werde nicht verstanden, realisiere aber lange nicht, dass man ein falsches Wörter gebraucht habe, schildern Daniel Albrecht und Jean-François Gächter ihre frustrierende Erfahrung.
Noch einmal Kindheit und Pubertät
Man beginne praktisch bei Null, fasst Albrecht zusammen. Reden lernen, keine Kraft haben, man schaffe es beim Essen mit der Gabel knapp bis zum Mund. Oder nach zwei Minuten aufrecht am Tisch sei man so erschöpft, dass man danach wieder drei Stunden schlafen müsse.
Gächter betont aber auch, dass nicht nur der Körper alles neu lernen muss. Neben der Sprache müsse man sein ganzes Leben nochmals erlernen, die Kindheit und die Pubertät bis zum Erwachsen werden. Dazu gehöre auch der Umgang mit dem persönlichen Umfeld und das vollständige Sozialverhalten, um in der Öffentlichkeit nicht kritische Blicke auf sich zu ziehen.
Dieser Lernprozess sei zentral, ist der Mediziner Andreas Luft überzeugt: Sprechen, Bewegung und Denken – Lernen sei das zentrale Stichwort. Das Gehirn lerne in den Erholungsphasen, und nachweislich würden im Gehirn auch neue Verbindungen wachsen, die für eine Genesung so wichtig seien.
Motivation und Motivationskiller nach einem Hirn-Trauma
Wer nach einer solch schweren Kopfverletzung ins normale Leben zurückkehren will, benötigt viel Kraft und verlangt auch seinem Umfeld einiges ab. Zur Motivationssteigerung seien positive Rückmeldungen an den Patienten sehr wichtig, sagte der Neurologe Andreas Luft. Dazu gehörten auch Belohnungen aller Art als zusätzlichen Ansporn, etwa die Information an den Patienten, wenn er etwas richtig gemacht habe. Solche Erfolgserlebnisse könnten als Glücksgefühl die Motivation steigern.
Gegenteilig könnten aber auch Depressionen auftreten und die Motivation massiv bremsen. Diese Erfahrung machte Thomas Scherer, der nach seinem Spitalaufenthalt seine beruflichen Möglichkeiten abklären wollte: Die Testresultate seien sein «berufliches Todesurteil» gewesen. Er konnte seinen bisherigen Beruf als Umweltwissenschaftler nicht mehr ausüben und kümmert sich heute als Hausmann um seine vier Kinder.
Zurück ins Leben
Weiterführende Links
Alle betroffenen Trauma-Patienten im «Club» sind nach ihrem Unfall ins Leben zurückgekehrt und haben heute eine ausfüllende und erfüllende Aufgabe. Daniel Albrecht als Unternehmer, Jean-François Gächter mit verschiedenen Projektaufträgen und Thomas Scherer mit einer grossen Familie.
Was sie Michael Schumacher, wie ungezählten anderen Opfern eines Schädel-Hirn-Traumas, mit auf den Weg geben, sind zwei grosse Dinge, die es braucht: Viel Kraft und Geduld, vor allem auch vom familiären Umfeld, um aus der Situation das Beste zu machen.