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Prominente Mutmacher «Ich stottere – na und?»

Vom Stottern begleitet, aber nicht definiert: Menschen, die sich trotz und mit der Sprechstörung ins Rampenlicht wagen, machen anderen Betroffenen Mut.

US-Präsident Joe Biden und der Schweizer Singer-Songwriter Noah Sam: Zwei Menschen im Rampenlicht. Das Stottern begleitet sie schon ihr Leben lang. Doch sie wollen sich nicht davon einschränken lassen.

Joe Biden bringt sich noch als Junge selber bei, das Stottern weitgehend in den Griff zu bekommen. Er rezitiert dafür vor dem Spiegel Gedichte und entwickelt verschiedene Strategien, um möglichst flüssig zu reden.

Völlig überwunden hat der 78-Jährige die Sprechstörung aber nie – was ihm in der Schulzeit gemeine Spitznamen eintrug und letztes Jahr von seinem Gegner im Wahlkampf um das Präsidentenamt für Angriffe unter der Gürtellinie genutzt wurde.

Wie der neue starke Mann im Weissen Haus stottert auch Noah Sam seit seiner Kindheit. Zwischen drei und vier trat die Sprechstörung erstmals in Erscheinung. Spott und Mobbing liessen auch bei ihm nicht auf sich warten und sollten ihm lange schwer zu schaffen machen.

Mittlerweile hat sich der 22-jährige Musiker mit dem Stottern arrangiert. «Ich weiss, wie damit umgehen. Das hat es für mich von einem riesigen Problem zu einem ganz kleinen gemacht.» Was sich auch in einer glasklaren Haltung ausdrückt: «Ich stehe hundertprozentig zu meinem Stottern, lasse mich aber ungern darauf reduzieren.»

Getreu diesem Motto wagte sich Noah Sam letzten Herbst auf die ganz grosse Bühne: vor das Millionenpublikum von «The Voice of Germany 2020».

Mit Erfolg: Bei seinem Auftritt an den Blind Auditions der Castingshow drehten sich nicht weniger als drei der vier Stühle zu ihm um. Noah Sam hatte es geschafft, Jury und Zuschauer zu berühren – und zu verblüffen. Denn der Musiker singt fliessend und stottert erst, wenn er spricht.

Zum Beispiel, wenn er seinen Namen nennen soll.

Juror Mark Forster stutzte erst und zog dann den Hut vor dem Mut des jungen Schweizers: «Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, bei dem das so ist und der sich auch noch auf so einer grossen Bühne vor so vielen Menschen präsentieren möchte. Das ist wirklich super mutig und super beeindruckend!»

Ich bin ein Musiker der stottert – kein Stotterer, der Musik macht.
Autor: Noah Sam

Dieser Moment und die darauffolgende Zeit bis zur grippebedingten Aufgabe vor dem Halbfinale bestärkten Noah Sam in seiner Haltung, sich die Zukunft nicht vom Stottern verbauen zu lassen: «Wenn man ein normales Leben ohne dauernde Einschränkung haben will, muss man halt den Sprung ins kalte Wasser wagen.»

Wie kalt dieses Wasser ist, können Nicht-Stotterer kaum ermessen. Denn was ihnen unbewusst mühelos gelingt, ist das Ergebnis hochkomplexer Abläufe.

Um fliessend zu sprechen, braucht es ein Zusammenspiel von Sinnesreizen und Arealen der linken Hirnhälfte, die eine Sprechabsicht planen, steuern und Gesagtes überprüfen. «Da stecken unheimlich komplizierte Leistungen dahinter», weiss Neurowissenschafter Christian Kell. Und wenn die nicht reibungslos funktionieren, kommt der Redefluss ins Stocken.

Mittlerweile sind Gene identifiziert, die zum Stottern beitragen können. Das heisst, es gibt eine genetische Prädisposition, ob man stottert oder nicht.
Autor: Christian Kell Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Gespräche fordern das sprachliche Netzwerk besonders. Denn mit einem Gegenüber kommen viele belastende Faktoren ins Spiel: Erwartungen, Widerspruch, Gefühle, Stress.

Singen fliesst leichter als Reden: Artikulation, Atmung, und Klangsteuerung laufen anders ab. Die rechte Hirnhälfte ist aktiver – und es ist eine Einwegkommunikation.

So hat auch Noah Sam kaum Probleme, wenn er singt oder beim Sprechen kein direktes Gegenüber hat. Jemandem eine Mitteilung auf die Combox sprechen? Kein Problem.

Ganz anders die Situation im kürzlich absolvierten Sozialpraktikum. Dort hatte er viel Kontakt mit Menschen und musste etwas vom Schwierigsten für Stotterer tun: telefonieren und viele Gespräche führen.

Ein weiterer Sprung ins kalte Wasser, bei dem Noah Sam ganz bewusst seine – wie er es selbst nennt – «bequeme Opferrolle» verlassen hat. «Das Praktikum hat meinen Blick verändert. Ich habe Erfahrungen gemacht, die für mein Selbstbewusstsein super waren. Halt, weil ich mir Tag für Tag beweisen konnte und musste, dass ich es kann!»

Die nächste Herausforderung steht schon fest: ein Sozialpädagogik-Studium.

Wissenswertes zum Stottern

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Meistens vorübergehend: Stottern tritt bei rund fünf Prozent der Kinder auf. Es beginnt in der Regel im Vorschulalter. Gut zu wissen: Die Störung ist meistens vorübergehend und hört sogar von selbst wieder auf. Aber: Je länger es dauert, desto wahrscheinlicher wird ein Stottern dauerhaft. Bei Erwachsenen verschwinden die Symptome nur noch selten.

Wann therapieren? Eine logopädische Therapie wird empfohlen, wenn Symptome über ein halbes Jahr anhalten oder früher, falls psychische Begleitsymptome auftreten.

Heilung altersabhängig: Jüngere Kinder haben die besten Chancen, mithilfe gezielter Therapie ihr Stottern zu überwinden. «Bei älteren Kindern, die schon länger stottern, geht es vor allem darum, den Zustand zu verbessern», so die Winterthurer Logopädin Katja Albrecht. Gegenüber Methoden, die Betroffenen Heilung versprechen, ist sie skeptisch. Möglich sei alles, aber niemand könne einen Erfolg garantieren.

Wie therapieren? Zwei Therapieansätze werden heute in der Logopädie kombiniert. Einerseits wird die ganze Sprechweise geschult, um sie fliessender zu machen. Weiter geht es darum, die Art des Stotterns zu verbessern. Mit Technik und Übung lassen sich Stotter-Momente abwenden, mildern, oder überbrücken.

Selbstbewusst stottern: Ein weiteres Ziel der Therapie ist es, Betroffene dabei zu unterstützen, «selbstbewusste Stotterer» zu werden. Dazu Logopädin Katja Albrecht: «Die Kinder sollen merken, dass das Stottern ein kleiner Teil ihrer Person ist. Es gibt ganz viele Möglichkeiten im Leben, auch wenn man stottert.»

Keine psychische Krankheit: Stottern ist keine psychische Krankheit. Die Störung ist genetisch-neurologisch bedingt. Auslöser sind nach heutigem Wissen denkbar, aber niemand ist «schuld» daran.

Puls, 15.03.2021, 21:05 Uhr

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