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Tödliche Viagra-Studie «Man wird Studien an Schwangeren nicht ersetzen können»

Der Tod von elf Babys in Holland ist tragisch. Doch Fortschritt sei nur durch Forschung möglich, sagt ein Experte.

In den Niederlanden ist eine Medikamentenstudie nach dem Tod von elf Babys abgebrochen worden. Die Mediziner hatten Schwangeren Viagra verabreicht und gehofft, dass durch die gefässerweiternde Wirkung des Wirkstoffs Sildenafil das Wachstum der zu kleinen Föten gefördert wird.

So tragisch diese Fälle sind: Ohne klinische Forschung sei kein Fortschritt in der Medizin möglich, sagt Peter Kleist, Geschäftsführer der Ethikkommission des Kantons Zürich.

Peter Kleist

Geschäftsführer Ethikkommission Kanton Zürich

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Der Arzt Peter Kleist ist Geschäftsführer der kantonalen Ethikkommission Zürich . Im Kanton Zürich wird schweizweit am meisten klinische Forschung am Menschen betrieben.

SRF News: Was denken Sie über den Fall in den Niederlanden?

Peter Kleist: Das ist eine Tragödie – ein Fall, den man im Rahmen der Forschung natürlich immer vermeiden will. Aber er zeigt auch, dass man ein Risiko nie hundertprozentig ausschliessen kann – denn Forschung ist immer mit einem Risiko verbunden. Das gehört leider genauso dazu, wie man versucht, den Nutzen und den Gewinn durch einzelne Behandlungsverfahren zu optimieren.

Schwangere Frauen gehören zu den verletzlichsten Personengruppen für Medikamententests überhaupt. Ist das Risiko bei Versuchen mit ihnen nicht schlichtweg zu hoch?

Das Risiko ist dann zu hoch, wenn man Untersuchungen macht, für die man nicht unbedingt Schwangere braucht. So tut man – wenn man ein noch wenig bekanntes Arzneimittel untersucht – alles, um keine Schwangeren in der Studie zu haben oder das Auftreten einer Schwangerschaft zu vermeiden.

Auch Schwangere haben Anspruch auf wirksame Medizin – deshalb braucht es klinische Studien.

Allerdings werden die Mütter immer älter: Frauen von Mitte 30 oder noch älter sind häufig schon krank oder werden im Verlauf ihrer Schwangerschaft krank. Natürlich haben sie auch dann Anspruch auf eine wirksame Medizin. Eine solche kann man aber nur durch neue Studien entwickeln. Ansonsten würde sich das Dilemma aus der Forschung in die klinische Praxis verschieben: Jede Verabreichung von Arzneimitteln an Schwangere würde zu einem unkontrollierten Experiment.

Wie geht man vor, wenn man medizinische Tests an Schwangeren machen will? Sind die Hürden höher als bei anderen Personengruppen?

Die Hürden sind bei Versuchen mit besonders verletzlichen Personengruppen immer hoch. Dazu gehören Schwangere, Kinder oder urteilsunfähige Personen. Dabei wird die Ausgangslage genau angeschaut: Gibt es bereits Erfahrungen mit Schwangeren? Hat man zuvor schon Studien durchgeführt? Wie sieht die Datenlage in Tierversuchen aus? Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte für Risiken bei Schwangeren? Diese Fragen würde sich auch eine Ethikkommission genau anschauen.

Symbolbild: Eine Schwangere hört ihren Bauch mit einem Stethoskop ab.
Legende: Der Viagra-Versuch in den Niederlanden hätte wachstumsschwachen Föten zu einer besseren Entwicklung verhelfen sollen. Imago

In den Niederlanden wurden gleich 93 Frauen mit Viagra behandelt. Hätte man nicht vorsichtiger vorgehen müssen, und zum Beispiel zunächst nur wenige Frauen behandeln sollen?

Es war ja nicht die erste Studie mit Sildenafil bei Schwangeren. Zuvor wurden schon Studien in England und in Australien durchgeführt. Demnach gab es keinerlei Anhaltspunkte für eine schädigende Wirkung. Um den potenziellen Nutzen eines Wirkstoffs zu untersuchen, braucht man aber eine grössere Gruppe von Personen. So war auch die niederländische Studie konzipiert.

Was bedeutet die Tragödie in den Niederlanden für die medizinische Forschung an Versuchspersonen?

Bei der Forschung selber wird sich in der Schweiz nichts ändern, die Standards sind bereits jetzt sehr hoch. Wenn diese eingehalten werden, dann kann man Risiken so weit wie möglich ausschliessen – allerdings nie zu 100 Prozent. Ein Risiko wohnt der Forschung grundsätzlich immer inne.

Man kann Risiken nie zu 100 Prozent ausschliessen – das wohnt der Forschung inne.

Trotzdem wird man darüber diskutieren, ob man solche Studien überhaupt durchführen darf. Das wiederum verursacht Erklärungsbedarf seitens der Forschenden. Sie müssen aufzeigen, warum solche Studien sinnvoll sind und dass medizinischer Fortschritt nicht anders erzielt werden kann.

Steht in dem Fall das Recht von Schwangeren auf medizinischen Fortschritt quasi über allem?

Diese Frage muss man natürlich ganz zentral beleuchten. Aber wir können nicht quasi a priori bestimmte Personengruppen vom medizinischen Fortschritt und von einer evidenzbasierten Medizin ausschliessen. Deswegen muss Forschung auch an verletzlichen Personengruppen grundsätzlich möglich sein – wenn auch unter klar definierten Bedingungen und Standards. Eine Ethikkommission oder eine Heilmittelbehörde schaut darauf, dass diese Standards eingehalten werden.

Werden in Zukunft Computermodelle mithelfen können, um solche Probleme aus der Welt zu schaffen, bevor sie entstehen?

Die technologischen Möglichkeiten schreiten voran, auch im Rahmen der Arzneimittelentwicklung. In der Tat kann man mittels mathematischer Modelle viele Dinge am Computer simulieren. Doch letztlich wird man den Beweis doch immer erst am Menschen antreten können. Deswegen kann ich mir nicht vorstellen, dass eine noch so gute Technologie klinische Studien am Menschen und auch an bestimmten Gruppen von Menschen wie Schwangeren wird ersetzen können.

Das Gespräch führte Sonja Mühlemann.

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