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Schwindel ohne Befund Patienten im Schleudergang

Beim Schwindel tappen Ärzte oft im Dunkeln. Zwar ist er eine der häufigsten Ursachen für einen Arztbesuch, aber die Diagnose erfolgt oft nach dem Prinzip: «Trial and Error».

Isabelle Kaufmann ist fast am Verzweifeln: «Ich stehe am Morgen auf und ab dann schwankt alles um mich herum, bis ich wieder ins Bett gehe», erzählt die 50-Jährige. Seit Monaten ist das so. Eine klare Ursache: Fehlanzeige.

Der Dauerschwindel hat bereits vieles in ihrem Leben verändert: Sie zieht sich immer mehr zurück, trifft kaum noch Freunde, traut sich nicht mehr alleine spazieren zu gehen. Der Schwindel hat sie unsicher gemacht und zögerlich. Dabei war sie bislang unternehmungslustig und gesellig, ging gerne zur Arbeit und war da, wenn andere sie brauchten.

Begonnen hat es vor zweieinhalb Jahren. «Ich sass beim Nachtessen und hatte aus heiterem Himmel eine Schwindelattacke. Ich konnte nicht mehr stehen, mein Mann begleitete mich zum Sofa und rief den Notarzt. Dieser überwies mich gleich ins Spital.»

Dort wird sie untersucht, doch ein Auslöser lässt sich nicht finden. Vermutlich sei das Gleichgewichtsorgan entzündet, sagt man ihr. Von da an wird sie den Schwindel nie mehr richtig los.

Sie sucht Hilfe – bei der Hausärztin, beim Physiotherapeuten, auch bei einer Kinesiologin und sogar bei einem Heiler. Nichts hilft. Der Schwindel wird immer stärker und dauerhafter. Sie ist verzweifelt und mit ihren Kräften am Limit.

«Viele sagten mir, das läge an Stress oder Problemen mit der Abnabelung meiner Kinder. Aber damit kann ich nichts anfangen. Es mag sicher sein, dass ein Teil psychisch ist, aber ich war überzeugt: Die Ursache ist eine andere.»

Psychogener Schwindel tönt nach 'selber schuld' oder nach 'eingebildeten Symptomen'. Aber er ist real.
Autor: Thierry Ettlin Schwindelexperte

Davon, den Schwindel allein auf die Psyche abzuwälzen, hält auch Thierry Ettlin, Chefarzt an der Reha Rheinfelden, wenig. Die Klinik hat sich auf die Behandlung von chronischem Schwindel spezialisiert.

«Das tönt nach 'selber schuld' oder nach 'eingebildeten Symptomen'. Aber das ist nicht der Fall. Der Schwindel ist real.» Eine Angsterkrankung oder Depression zu diagnostizieren und den Fall damit abzuhaken, führe zu kurz: «Schwindel ist immer verbunden mit vegetativen Symptomen: Es wird ihnen übel, der Puls ist beschleunigt, sie schwitzen. Das macht immer auch Angst.»

Teufelskreis der Angst

Ein Patient liegt auf einer Liege, die Therapeutin sitzt vor ihm mit einem bunten Ball.
Legende: Richard Leuenberger lernt in Schwindel auslösenden Situationen, den Schwindel anzunehmen. SRF

Die Angst ist beim Schwindel zentral. Irgendwann lässt sich nicht mehr sagen, was zuerst da war: der Schwindel oder die Angst davor – ein Teufelskreis, in den die meisten chronischen Schwindelpatienten geraten.

Bei Richard Leuenberger ging es so weit, dass er sich kaum mehr ausser Haus traute und sich nur noch im Bett sicher fühlte.

Vor sieben Jahren hatte er die erste Schwindelattacke, auch bei ihm hat sich der Schwindel verselbständigt. Er fiel in eine Erschöpfungsdepression, seit fünf Monaten ist er krankgeschrieben. «Der Schwindel raubte mir jegliche Kraft und auch das Selbstwertgefühl», erzählt der 62-Jährige.

«Hinzu kamen Existenzängste und die Frage: Was, wenn ich nicht mehr funktionieren kann?» Auch bei ihm liess sich keine eindeutige Ursache finden. Doch sein Hausarzt reagierte und überwies ihn in die Reha nach Rheinfelden.

Das Gehirn umprogrammieren

Häufigkeit von Schwindel

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Mit dem Alter nimmt die Häufigkeit von Schwindel zu. Unter jungen Erwachsenen leiden nur etwa zwei Prozent regelmässig daran. Bei über 65-Jährigen liegt die Quote schon bei 30 Prozent, bei Menschen über 80 sogar bei 39 Prozent.

Seit vier Wochen ist er nun in einem intensiven Training, einem Mix aus Gleichgewichtstraining und Verhaltenstherapie. Er lernt sukzessive neue Muster kennen, tastet sich im Gleichgewichtstraining an den Schwindel heran, lässt ihn zu statt ihn mit Angst abzuwehren und kann so den Schwindel reduzieren.

Die Schwindelexperten der Reha Rheinfelden gehen davon aus, dass Schwindel im Hirn gespeichert ist und nun quasi ein neues Programm auf die «Festplatte» programmiert werden muss.

Thierry Ettlin vergleicht das mit Matrosen, die sich nach langer Zeit auf hoher See auf festem Boden noch lange vom Seegang geschaukelt fühlen. «Das sind sogenannte engrammierte Muster im Hirn, die wir reprogrammieren, korrigieren und mit einem neuen Programm überschreiben müssen. Mit Gleichgewichtsübungen lernen wir das wieder.»

Ich habe dem Schwindel den Stinkefinger gezeigt.
Autor: Richard Leuenberger Schwindelpatient

Bei Richard Leuenberger hat das Training funktioniert. «Ich habe dem Schwindel den Stinkefinger gezeigt. Ich bestimme jetzt und nicht mehr der Schwindel.» Die Fortschritte lassen sich messen: Reagierte er bei einer Gleichgewichtsübung noch vor ein paar Wochen mit Übelkeit, Schwindel und Angst, «habe ich jetzt bei der gleichen Übung nur noch einen Hauch davon.»

Die Patientin sitzt mit ihrer Ärztin am Besprechungstisc über ein Papier gebeugt.
Legende: Fast schwindelfrei: Isabelle Kaufmann (links) hat mit ihrer Ärztin eine Lösung gefunden. SRF

Auch Isabelle Kaufmann ist heute fast beschwerdefrei. Sie suchte eine Hormonspezialistin auf: Das Verhältnis zwischen Östrogen und Progesteron war nicht im Gleichgewicht.

Nun trägt sie einmal täglich eine Salbe mit Progesteron auf. «Bereits am dritten Tag wurde der Schwindel weniger», sagt sie. «Heute ist er nur noch leicht – mir geht es wieder richtig gut.»

Schwindel ist nur ein Symptom

Der Leidensweg von Isabelle Kaufmann und Richard Leuenberger ist nicht untypisch. Denn wenn sich keine handfeste Ursache nachweisen lässt – ein Tumor, eine Infektion des Ohres oder ein niedriger Blutdruck beispielsweise – wird es für die Ärzte schwierig.

Es ist nicht eindeutig klar, ob ein Schwindel vom Gleichgewichtsorgan herrührt oder von der Halswirbelsäule. Denn Schwindel ist «nur» ein Symptom, keine Krankheit für sich.

Ärzte tasten sich oft im Ausschlussprinzip an den Kern des Problems heran. Und manchmal ist die Natur schneller: Der Schwindel verschwindet von selbst wieder.

Arten von Schwindel

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Attackendrehschwindel

Setzt kurz und heftig ein, dauert aber nur maximal einige Minuten an. Das Drehgefühl ist stark, die Sturzneigung hoch, oft verbunden mit Übelkeit.

Anhaltender Drehschwindel (wie Karussell)

Hält über Stunden oder Tage an und ist oft mit Fallneigung, Augenzittern, Übelkeit und Erbrechen verbunden. Er ist besonders bei Menschen ab 50 häufig. Frauen sind öfter betroffen. Stress, Verspannungen, Schäden am Gleichgewichtsnerv oder Gleichgewichtsorgan im Ohr, Erkrankungen der Nervenbahnen, Alkoholsucht, Unterzuckerung, Herzrhythmusstörungen, Migräne, Durchblutungsstörungen des Gehirns oder Augenerkrankungen können ihn auslösen. In vielen Fällen ist keine genaue Ursache feststellbar.

Lagerungsschwindel

Der gutartige Lagerungsschwindel ist ein Drehschwindel, der am häufigsten vorkommt. Er tritt nach schnellen Bewegungen des Kopfes auf, beim Seitwärtsneigen oder Umdrehen im Bett. Manchmal verbunden mit Schweissausbrüchen, Übelkeit bis hin zum Erbrechen und Ängsten. Der Lagerungsschwindel ist einer der wenigen Schwindeltypen, bei denen die Ursache klar scheint: Feine Kalziumkarbonatkristalle lösen sich aus der Membran, schwimmen dann im Innenohr umher und reizen dort die Sensorzellen. Er ist sehr gut therapierbar.

Schwankschwindel (wie Bootfahren) / Benommenheitsschwindel

Plötzlich einsetzende Gleichgewichtsprobleme in Ruhe oder Bewegung. Gefühl, als schwanke der Boden, verbunden mit einer Gangunsicherheit. Diese Art des Schwindels löst besonders oft Ängste aus. Attacken dauern oft nur wenige Sekunden. Übelkeit ist eher selten. Die Ursachen sind sehr vielfältig.

Zum Schwankschwindel gehört auch der Bewegungsschwindel (See-, Flug- oder Reisekrankheit), bei dem die Sehwahrnehmung und die fehlende Körperbeschleunigung fehlerhaft miteinander abgeglichen werden. Hier kommt es oft zur Übelkeit.

Häufigkeit von Schwindel

Mit dem Alter nimmt die Häufigkeit von Schwindel zu. Unter jungen Erwachsenen leiden nur etwa zwei Prozent regelmässig daran. Bei über 65-Jährigen liegt die Quote schon bei 30 Prozent, bei Menschen über 80 sogar bei 39 Prozent.

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