Isabelle Kaufmann ist fast am Verzweifeln: «Ich stehe am Morgen auf und ab dann schwankt alles um mich herum, bis ich wieder ins Bett gehe», erzählt die 50-Jährige. Seit Monaten ist das so. Eine klare Ursache: Fehlanzeige.
Der Dauerschwindel hat bereits vieles in ihrem Leben verändert: Sie zieht sich immer mehr zurück, trifft kaum noch Freunde, traut sich nicht mehr alleine spazieren zu gehen. Der Schwindel hat sie unsicher gemacht und zögerlich. Dabei war sie bislang unternehmungslustig und gesellig, ging gerne zur Arbeit und war da, wenn andere sie brauchten.
Begonnen hat es vor zweieinhalb Jahren. «Ich sass beim Nachtessen und hatte aus heiterem Himmel eine Schwindelattacke. Ich konnte nicht mehr stehen, mein Mann begleitete mich zum Sofa und rief den Notarzt. Dieser überwies mich gleich ins Spital.»
Dort wird sie untersucht, doch ein Auslöser lässt sich nicht finden. Vermutlich sei das Gleichgewichtsorgan entzündet, sagt man ihr. Von da an wird sie den Schwindel nie mehr richtig los.
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Bild 1 von 6. Im Innenohr befindet sich das Gleichgewichtsorgan: Drei Bogengänge melden dem Gehirn die Position im Raum. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 6. Schwindel entsteht oft bei Problemen im Innenohr. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 6. Kommt es dort zu Entzündungen oder bilden sich lose Partikel, kommt es zu Falschmeldungen. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 6. Bei Falschmeldungen aus dem Innenohr zusammen mit der Wahrnehmung der Augen kann es zu widersprüchlichen Informationen im Gehirn kommen. Schwindel ist die Folge. Bildquelle: SRF.
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Bild 5 von 6. Sinnesorgane und Nervenbahnen in anderen Teilen des Körpers können ebenfalls betroffen sein und die Wahrnehmung im Gehirn stören. Auch Herzleiden, Unterzuckerung oder Probleme mit der Halswirbelsäule können Schwindel auslösen. Bildquelle: SRF.
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Bild 6 von 6. Auch das Hirn selbst kann Ursache von Schwindelanfällen sein – zum Beispiel dann, wenn es nicht richtig durchblutet wird. Im schlimmsten Fall ist die Ursache ein Schlaganfall. Bildquelle: SRF.
Sie sucht Hilfe – bei der Hausärztin, beim Physiotherapeuten, auch bei einer Kinesiologin und sogar bei einem Heiler. Nichts hilft. Der Schwindel wird immer stärker und dauerhafter. Sie ist verzweifelt und mit ihren Kräften am Limit.
«Viele sagten mir, das läge an Stress oder Problemen mit der Abnabelung meiner Kinder. Aber damit kann ich nichts anfangen. Es mag sicher sein, dass ein Teil psychisch ist, aber ich war überzeugt: Die Ursache ist eine andere.»
Psychogener Schwindel tönt nach 'selber schuld' oder nach 'eingebildeten Symptomen'. Aber er ist real.
Davon, den Schwindel allein auf die Psyche abzuwälzen, hält auch Thierry Ettlin, Chefarzt an der Reha Rheinfelden, wenig. Die Klinik hat sich auf die Behandlung von chronischem Schwindel spezialisiert.
«Das tönt nach 'selber schuld' oder nach 'eingebildeten Symptomen'. Aber das ist nicht der Fall. Der Schwindel ist real.» Eine Angsterkrankung oder Depression zu diagnostizieren und den Fall damit abzuhaken, führe zu kurz: «Schwindel ist immer verbunden mit vegetativen Symptomen: Es wird ihnen übel, der Puls ist beschleunigt, sie schwitzen. Das macht immer auch Angst.»
Teufelskreis der Angst
Die Angst ist beim Schwindel zentral. Irgendwann lässt sich nicht mehr sagen, was zuerst da war: der Schwindel oder die Angst davor – ein Teufelskreis, in den die meisten chronischen Schwindelpatienten geraten.
Bei Richard Leuenberger ging es so weit, dass er sich kaum mehr ausser Haus traute und sich nur noch im Bett sicher fühlte.
Vor sieben Jahren hatte er die erste Schwindelattacke, auch bei ihm hat sich der Schwindel verselbständigt. Er fiel in eine Erschöpfungsdepression, seit fünf Monaten ist er krankgeschrieben. «Der Schwindel raubte mir jegliche Kraft und auch das Selbstwertgefühl», erzählt der 62-Jährige.
«Hinzu kamen Existenzängste und die Frage: Was, wenn ich nicht mehr funktionieren kann?» Auch bei ihm liess sich keine eindeutige Ursache finden. Doch sein Hausarzt reagierte und überwies ihn in die Reha nach Rheinfelden.
Das Gehirn umprogrammieren
Seit vier Wochen ist er nun in einem intensiven Training, einem Mix aus Gleichgewichtstraining und Verhaltenstherapie. Er lernt sukzessive neue Muster kennen, tastet sich im Gleichgewichtstraining an den Schwindel heran, lässt ihn zu statt ihn mit Angst abzuwehren und kann so den Schwindel reduzieren.
Die Schwindelexperten der Reha Rheinfelden gehen davon aus, dass Schwindel im Hirn gespeichert ist und nun quasi ein neues Programm auf die «Festplatte» programmiert werden muss.
Thierry Ettlin vergleicht das mit Matrosen, die sich nach langer Zeit auf hoher See auf festem Boden noch lange vom Seegang geschaukelt fühlen. «Das sind sogenannte engrammierte Muster im Hirn, die wir reprogrammieren, korrigieren und mit einem neuen Programm überschreiben müssen. Mit Gleichgewichtsübungen lernen wir das wieder.»
Ich habe dem Schwindel den Stinkefinger gezeigt.
Bei Richard Leuenberger hat das Training funktioniert. «Ich habe dem Schwindel den Stinkefinger gezeigt. Ich bestimme jetzt und nicht mehr der Schwindel.» Die Fortschritte lassen sich messen: Reagierte er bei einer Gleichgewichtsübung noch vor ein paar Wochen mit Übelkeit, Schwindel und Angst, «habe ich jetzt bei der gleichen Übung nur noch einen Hauch davon.»
Auch Isabelle Kaufmann ist heute fast beschwerdefrei. Sie suchte eine Hormonspezialistin auf: Das Verhältnis zwischen Östrogen und Progesteron war nicht im Gleichgewicht.
Nun trägt sie einmal täglich eine Salbe mit Progesteron auf. «Bereits am dritten Tag wurde der Schwindel weniger», sagt sie. «Heute ist er nur noch leicht – mir geht es wieder richtig gut.»
Schwindel ist nur ein Symptom
Der Leidensweg von Isabelle Kaufmann und Richard Leuenberger ist nicht untypisch. Denn wenn sich keine handfeste Ursache nachweisen lässt – ein Tumor, eine Infektion des Ohres oder ein niedriger Blutdruck beispielsweise – wird es für die Ärzte schwierig.
Es ist nicht eindeutig klar, ob ein Schwindel vom Gleichgewichtsorgan herrührt oder von der Halswirbelsäule. Denn Schwindel ist «nur» ein Symptom, keine Krankheit für sich.
Ärzte tasten sich oft im Ausschlussprinzip an den Kern des Problems heran. Und manchmal ist die Natur schneller: Der Schwindel verschwindet von selbst wieder.
Häufigkeit von Schwindel
Mit dem Alter nimmt die Häufigkeit von Schwindel zu. Unter jungen Erwachsenen leiden nur etwa zwei Prozent regelmässig daran. Bei über 65-Jährigen liegt die Quote schon bei 30 Prozent, bei Menschen über 80 sogar bei 39 Prozent.