Im November stimmen Schweizerinnen und Schweizer über die 1:12-Initiative ab. Diese zielt ebenso auf eine gerechtere Verteilung der Einkommen ab wie die Mindestlohn-Initiative, die nächstes Jahr vor das Volk kommen wird.
Unabhängig von der ökonomischen Effizienz solcher Eingriffe: Ob Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Unternehmen ihre Löhne für gerecht halten, hat einen erheblichen Einfluss auf ihre Arbeitsproduktivität. Diesen Schluss legen Versuche nahe, die ein Team rund um den Zürcher Verhaltensökonomen Michel Maréchal durchgeführt hat.
Wenn der Lohn sinkt, sinkt die Produktivität
Maréchal rekrutierte Studenten, die in einer Bibliothek Bücher elektronisch erfassen sollten. Im Vorfeld stellte er ihnen 15 Euro Stundenlohn in Aussicht. Bei Arbeitsbeginn änderte Maréchal die Löhne jedoch: Die erste Gruppe erhielt plötzlich nur noch 10 Euro, die zweite Gruppe 20 Euro. Bei der dritten Gruppe, der Kontrollgruppe, blieb der Lohn bei 15 Euro. Die Produktivität jener Studenten, die plötzlich schlechter bezahlt wurden, sank um über 20 Prozent (gemessen an der Kontrollgruppe). Die besser bezahlten wurden demgegenüber nicht produktiver.
Das Gefühl, ungerecht entlöhnt zu werden, hat also einen erheblich stärkeren Einfluss. Gemessen wurde die Produktivität an der Anzahl erfasster Bücher pro Minute.
Das zeigt: Empfundene Ungerechtigkeit beeinflusst Arbeitnehmer stark. «Wenn man nicht das bekommt, was man für den gerechten Lohn hält, kann sich das verheerend auf die Produktivität auswirken», resümiert Maréchal.
Gerechtigkeit ist subjektiv – mit oder ohne 1:12
In einem weiteren Experiment hat Maréchal herausgefunden, dass persönliche Wertschätzung die Produktivität viel stärker ansteigen lässt als eine Lohnerhöhung. Man habe zwar aus anderen Studien gewusst, dass Wertschätzung gegenüber dem Arbeitnehmer ein entscheidender Faktor ist, sagt Maréchal, «aber dass sie einen so starken Effekt hat im Verhältnis zum Lohn, das hat mich überrascht».
Gerechtigkeit spielt im Arbeitsalltag neben dem Lohn also eine entscheidende Rolle. Ein für alle «gerechtes Lohnsystem» lasse sich allerdings nicht definieren, sagt Maréchal, «Gerechtigkeit ist etwas sehr Subjektives». An diesem Schluss wird auch der Ausgang der Abstimmung über die 1:12-Initiative nichts ändern.