Zwanzig junge Leute liegen in Etagenbetten nebeneinander. Ein paar faule Sprüche werden gerissen, Gelächter. Die Tür des Massenschlags wird aufgerissen und der Lehrer sagt in befehlerischem Ton: «Ruhe und Lichter löschen, aber sofort!»
Wer in jungen Jahren auf einer Schulreise schon einmal in einer Jugendherberge übernachtet hat, erinnert sich wahrscheinlich noch an solche Szenen. Im Laufe der Zeit hat sich das Angebot der Unterkünfte zwar gewandelt. Doch an den ursprünglichen Werten hat sich nichts verändert.
1900-1924: Die Vorgeschichte
«Das Wandern ist des Müllers Lust» oder «Hejo, spann den Wagen an» – manch eine Wanderin oder ein Wanderer stimmt diese Lieder auch heute noch an, wenns über Stock und Stein zu Berg geht. Ihren Ursprung haben die Lieder in der Wanderbewegung des frühen 19. Jahrhunderts. Eine Bewegung, die als Reaktion auf damalige gesellschaftliche Verhältnisse entstanden war.
Die gesellschaftlichen Folgen der Industrialisierung und Urbanisierung wurden als gesellschaftsschädigend angesehen. Auch die Freizeit war begrenzt: Für Arbeiterinnen und Arbeiter gab es kaum gesetzlich geregelten Urlaub, Schülerinnen und Schüler hatten lediglich an den Sonntagen frei.
Die Urbanisierung war in vollem Gang: Städte wurden immer grösser und wuchsen zu pulsierenden und schnelllebigen Zentren an. Gleichzeitig verbreitete sich eine Zivilisationskritik: Die Natur rückte vermehrt in den Fokus. Wandern war im Trend, ganz nach den Vorbildern von Henry David Thoraus Aussteigerroman «Walden» oder Herman Hesses Gedichten über seine Wanderungen im Tessin.
Jugendliche schlossen sich zu Wandergruppen zusammen. Während den mehrtägigen Wanderungen übernachteten sie beispielsweise in Hütten des damals bereits bestehenden Schweizer Alpenclubs SAC.
1924 bis 1932: Gründungsjahre
Immer mehr Jugendliche begeisterten sich nach dem Ersten Weltkrieg für das Wandern. Dies erforderte auch mehr Übernachtungsmöglichkeiten. Am 28. April 1924 war es dann so weit: Die Genossenschaft für Jugendherbergen in Zürich wurde gegründet. Wenige Monate nach der Gründung wurde das erste Herbergsverzeichnis vorgelegt: ein Flugblatt mit 12 Jugendherbergen und vier Unterkünften mit Heulagern.
Bei der Lancierung waren auffällig viele Gründerinnen dabei – dies zu einer Zeit, in der das Frauenwahl- und Stimmrecht noch in weiter Ferne war.
Die auch für damalige Verhältnisse tiefen Preise waren bei der Gründung wichtig, da sich das Angebot in seinem Selbstverständnis an Jugendliche richtet. Eine Altersbeschränkung gab es keine.
Um in den Katalog aufgenommen zu werden, mussten die Unterkünfte damals die folgenden Kriterien erfüllen: Eine Übernachtungsmöglichkeit – mit Betten oder Schlafplätzen im Stroh –, ein Dach über dem Kopf und eine Kocheinrichtung mussten vorhanden sein. Einige Unterkünfte mussten aufgrund mangelnder Hygiene oder schwieriger Führung kurz nach der Eröffnung wieder schliessen. Und trotzdem: Das Herbergsverzeichnis wuchs rasant an.
Auch in den Kantonen Basel, Bern, Luzern, Aargau und Solothurn fand die Idee aus Zürich Gefallen. So wurde 1927 der «Bund Schweizerischer Jugendherbergen» gegründet.
1930 bis 1938: Die Jahre im Zeichen der Wirtschaftskrise
Die Gästezahlen der Jugendherbergen stiegen weiter, wenn auch aufgrund des Zweiten Weltkrieges und der Wirtschaftskrise nur noch wenige ausländische Touristinnen und Touristen die Schweiz besuchten. Den Innerschweizer Jugendherbergen spielte die Wirtschaftskrise in die Karten, und sie konnten ihr Glück kaum fassen. Denn im Jahr 1930 kaufte der Kreis Luzern ein Haus an bester Lage zwischen Vitznau und Gersau am Vierwaldstättersee: das Jugendferienheim Rotschuo.
Im Oktober 1932 ist es auch dem Zürcher Kreis gelungen, das erste «Eigenheim» einzuweihen: ein abgeschiedenes Tuffsteingebäude mit Aussicht auf das Bergpanorama und den Heidsee in der Lenzerheide.
Die Angst vor einem Krieg breitete sich in der Schweiz ab Mitte der 1930er-Jahre aus. Schon bei der Gründung der Jugendherbergen war aber klar, dass der Verein politisch und konfessionell unabhängig sein soll. So boten die Unterkünfte beispielsweise Kindern Schutz, als 1936 der Spanienkrieg ausgebrochen war.
1939 bis 1947: Zweiter Weltkrieg und erste Nachkriegsjahre
1939 fand in Zürich die Landesausstellung statt. Auch die Schweizer Jugendherbergen waren vertreten. Zusammen mit dem Verein Jugendhaus Zürich bauten sie für diese Ausstellung ein Musterhaus: eine Kombination aus Jugendtreffpunkt und Herberge. Das Gebäude wurde jedoch nach der Landesausstellung im Oktober wieder abgerissen.
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges veränderte sich das Leben der Menschen schlagartig. 1940 waren fast die Hälfte aller Gäste in den Jugendherbergen Militärangehörige. Ausländische Gäste gab es nur noch vereinzelt.
Um die Belegung in den Kriegsjahren zu verbessern, machte der Verein bei Schulklassen Werbung: Die Qualität der Unterkünfte habe sich seit den Gründungsjahren wesentlich verbessert, Schlaf- und Aufenthaltsräume seien geräumiger und eigneten sich auch für grössere Gruppen.
1947 bis 1959: Erholung und Professionalisierung
Nach Kriegsende wuchs die internationale Zusammenarbeit mit der International Youth Hostel Federation (IYHF). Dieser Dachverband organisierte 1946 eine Nachkriegskonferenz in Schottland, an der die Schweiz im Vorstand vertreten war.
Zu Beginn der 1950er-Jahre stiegen die Besucherzahlen wieder. Rückbesinnend auf ihre Grundwerte, stellten die Schweizer Jugendherbergen ihre Häuser auch Menschen auf der Flucht zur Verfügung, wie beispielsweise nach dem Ungarnaufstand 1956.
Ob per Autostopp, mit dem Töffli oder Bus: Wie die Gäste zu den Jugendherbergen anreisen, wurde zum Diskussionspunkt und rüttelte am Geiste der Jugendherbergen. Erst 1968 durften Reisende auch mit dem Auto zu den Unterkünften fahren. Dies war bis dahin verboten.
Zudem führte der Verband 1959 nationale Richtpreise für die Verpflegung ein und erarbeitete Menüvorschläge – Zeichen einer steigenden Professionalisierung.
1960 bis 1970: Aufbruchstimmung
Das internationale Reisefieber der Jugendlichen wuchs. Etliche Tramperinnen und Anhalter zogen mit dem Rucksack um die Welt.
Die zunehmende Politisierung der Jugendlichen war bei den Jugendherbergen zwar kaum Thema, doch dem wachsenden Unabhängigkeitsdrang der Kundschaft mussten sie gerecht werden. Denn die Konkurrenz schlief nicht: Pensionen und «Bed & Breakfast»-Angebote sprachen junge Reisende immer mehr an.
1970 bis 1990: Backpacker entdecken die Welt
In den 1970er-Jahren waren Rucksackreisen im Trend, und die Übernachtungszahlen stiegen unerwartet an. Grund dafür war mitunter die Einführung des neuen Interrail-Passes. Mit dieser günstigen Transportmöglichkeit waren bekannte Tourismusdestinationen wie Luzern und Interlaken vor allem bei Touristinnen und Touristen aus den USA sehr beliebt. Zeitgleich wurden die ersten Raucherzimmer eingerichtet und das Alkoholverbot wurde aufgehoben.
Im Laufe der 1980er-Jahre veränderte sich das Image der Jugendherbergen. Immer weniger junge Leute waren Mitglied im Verein. Umfragen zeigten, dass die strikte Geschlechtertrennung und die restriktive Nachtruheregelung nicht mehr dem Zeitgeist entsprachen. Dementsprechend wurden die Unterkünfte lockerer und luxuriöser.
1990 bis 1999: Umstrukturierung und Neuausrichtung
Die Veränderungen im Tourismus der letzten Jahrzehnte spüren auch die Jugendherbergen.
Die Unterkünfte wurden nun in Kategorien wie Durchgangsherbergen, Romantik-Herbergen oder Familienherbergen eingeteilt. Damit sollte die Attraktivität der Jugendherbergen gesteigert werden. Günstige Preise waren aber stets zentral.
2000 bis 2010: Neupositionierung und Imagekorrektur
Mit dem vielfältigen Angebot veränderte sich auch die Architektur. Die ursprünglich naturnahen Unterkünften und Massenschlägen wandelten sich zu Häusern mit Privatzimmern oder Seminarräumen.
Auch auf einen klimafreundlichen Tourismus legten die Jugendherbergen viel Wert und die Unterkünfte überarbeiteten ihre Klimakonzepte.
2010 bis 2019: Strategische Nachhaltigkeit
Seit Beginn sei Nachhaltigkeit für Schweizer Jugendherbergen zentral und Jugendliche sollen auf das Thema sensibilisiert werden. So erhielt eine Schulklasse in Grindelwald die Möglichkeit, eine Solaranlage bei einer Unterkunft zu montieren.
Neben dem Klima stand auch ein barrierefreier Zugang im Fokus. Die Gebäude der Unterkünfte wurden dementsprechend baulich angepasst. Das Angebot reichte zudem von Mehrbettzimmern für ein kleines Budget bis zu teureren Wellnesshostels.
2020 bis heute: Pandemiejahre und Neustart
Die Pandemie hatte verheerende Folgen für die Schweizer Jugendherbergen: ein historisches Defizit und der vollständige Kapitalverlust. Einzig gestrandete Handwerkerinnen, Geschäftsleute, das Militär oder Menschen in besonderen Lebenssituationen fanden sich in den Unterkünften wieder.
Auf die Pandemie folgte aber das grosse Aufatmen. Im Jahr 2023 konnte der Schweizer Tourismus ein Rekordjahr verzeichnen.
Die Gäste der Jugendherbergen suchen nicht die Stille, sondern das Leben. Gerade weil es bei uns turbulent und divers zu- und hergeht, kommen die Leute zu uns.
Neben der Jugend zieht es heutzutage auch Familien und ältere Semester in die Unterkünfte der Jugendherbergen Schweiz. «Die Gäste der Jugendherbergen suchen nicht die Stille, sondern das Leben. Gerade weil es bei uns turbulent und divers zu- und hergeht, kommen die Leute zu uns», sagt Janine Bunte, CEO der Schweizer Jugendherbergen. Und so schreitet die Non-Profit-Organisation in ihr nächstes Jahrhundert. Doch das Ziel bleibt gleich: ein günstiges und interessantes Angebot.