Sie nennt sich die «Zeitung von den Randständigen für die Anständigen» – die Gasseziitig Lozärn. Vor 25 Jahren kamen die ersten paar Hundert Exemplare in den Umlauf. Mittlerweile werden die drei Ausgaben jährlich zwischen 10'000 und 15'000 Mal verkauft.
Während die Auflage stetig gestiegen ist, blieb eines stets gleich: der Verkauf über die Gassenleute. Über Menschen wie Dani zum Beispiel.
Der 50-Jährige steht in der Luzerner Altstadt vor dem Supermarkt. Gelbe Regenjacke, die Kapuze über den Kopf gezogen, die Augen zugekniffen. Sein Plastikmäppli mit den Zeitungen ist praktisch leer. Er engagiere sich als Verkäufer, weil er nicht nur betteln wolle, sagt Dani. «Mit der Gasseziitig kann ich den Leuten etwas anbieten.»
Auch Bianca, 34, violette Fingernägel, bordeauxfarbene Regenjacke, schätzt den Erlös aus dem Verkauf der Gasseziitig. Nach drei Stunden vor einem Einkaufszentrum sind 35 Exemplare weg. «Ich bin zufrieden.» Den Batzen könne sie gut gebrauchen, sie treffe sich noch mit ihrer Tochter.
Rund 50 sucht- und armutsbetroffene Menschen verkaufen in diesen Tagen die Gasseziitig. Einen Franken zahlen sie pro Zeitung, für zwei wechselt das Blatt den Besitzer.
Der Preis habe sich seit den Anfängen nicht verändert, sagt Roger Lütolf. Er arbeitet beim Verein Kirchliche Gassenarbeit Luzern, der die Zeitung herausgibt. «Verlassen unsere Klientinnen und Klienten die Verkaufstheke, werden sie zu Einzelunternehmern und verkaufen die Zeitung auf eigenes Risiko.» Häufig sei dies eine ihrer wenigen legalen Einnahmequellen.
Unsere Klientinnen und Klienten verkaufen die Zeitung auf eigenes Risiko.
Viele würden auf ein Trinkgeld spekulieren, so Lütolf. Eine Strategie, die aufgeht. Oft erhalte er pro Ausgabe einen Fünfliber, sagt Dani. «Ich habe aber auch schon eine Fünfzigernote bekommen.» Wie viel ihm die Zeitung einbringt, behält er für sich. Berufsgeheimnis, sagt er. «Auch wegen des Sozialamts.»
Zeitung wird zum Sprachrohr der Drogenszene
Die Anfänge des Blatts wurzeln in der offenen Drogenszene der 1990er. Eine Zeit des Aufruhrs. Zwischen Randständigen und Luzerner Bürgerinnen und Bürgern klaffen Gräben.
Der Verein Kirchliche Gassenarbeit, der in Luzern unter anderem die Gassechuchi und die Drogeninformation betreibt, realisiert: Sucht- und armutsbetroffene Menschen brauchen ein Sprachrohr. Nur so können sie ihre Anliegen äussern. Auch politisch. Das ist die Geburtsstunde der Gasseziitig.
Seither gehen in den jeweiligen Einrichtungen Sozialarbeitende und Pflegefachleute auf ihre Klientinnen und Klienten zu und spornen sie an, eigene Beiträge ins Blatt zu bringen. «Es gibt darin ernste, aber auch humorvolle und leichte Kost», sagt Roger Lütolf.
Schicksal der Randständigen stösst auf Interesse
In der aktuellen Ausgabe etwa geben Sucht- und Armutsbetroffene Einblick in ihren Alltag. Ein paar Seiten weiter verabschiedet sich Bea in einem Brief von Susi, einem verstorbenen «Luzerner Urgassen-Original». Und Katharina erzählt von ihrer Kindheit mit einer drogenkranken Mutter.
Viele Leute interessieren sich für uns. Das ist schön zu sehen.
Jede Ausgabe ziehe viele Rückmeldungen nach sich, sagt Roger Lütolf vom herausgebenden Verein. «Besonders viele gibt es nach emotionalen Geschichten.»
Denn auch wenn sie sich am Rande der Gesellschaft bewegen: Die Schicksale von Sucht- und Armutsbetroffenen interessieren. Das spürt auch Dani. Er komme oft ins Gespräch mit Passanten. Man stemple Leute wie ihn nicht einfach ab. «Viele Leute interessieren sich für uns. Das ist schön zu sehen.»