Sie war in der Schweiz die erste ihrer Art. 1972 wurde die Berner Sondereinheit «Enzian» gegründet. Und zwar noch vor der blutigen Geiselnahme an den Olympischen Spielen in München. Roger Staub ist bei der Kantonspolizei Bern Chef der Spezialfahndung 3 und somit für die Sondereinheit «Enzian» zuständig. Er war in verschiedenen Funktionen selbst fast 20 Jahre in dieser Einheit tätig.
SRF News: Warum wurde die Sondereinheit «Enzian» im Frühjahr 1972 gegründet?
Roger Staub: Zu dieser Zeit war Bern mit dem Jurakonflikt konfrontiert. Das war laut unseren Informationen der Auslöser, dass man Polizisten wollte, welche eine Spezialausbildung haben. Gleichzeitig dürften auch vorausschauende Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Das Olympia-Attentat im Herbst 1972 gab dem Ganzen dann auch recht.
Was ist ein typischer «Enzian»-Einsatz?
Das kann zum Beispiel eine sehr gefährliche Person sein, welche man überraschend und zu einem günstigen Moment festnehmen muss. Es kann aber auch eine Intervention sein, bei der man gewaltsam in eine Wohnung eindringen muss. Eine Geiselnahme wie im Film kommt sehr selten vor, aber auch das gehört zum Aufgabenspektrum.
Eine Geiselnahme wie im Film kommt sehr selten vor.
Es gibt mehrere hundert Einsätze im Jahr – viele Pausen gibt es also nicht?
Einen wesentlichen Teil nehmen Aufträge im Personenschutz ein. Wir beschützen Magistraten oder sonst bedrohte Personen und sind bei Staatsbesuchen im Einsatz.
Das heisst, die Mitglieder der Sondereinheit müssen auch mit der Etikette des internationalen Politparketts vertraut sein?
Richtig. Schon am Anfang gab es einen Benimmkurs. Darin lernten sie, wie man sich bei solchen Treffen am Tisch verhält, wohl auch welches Besteck wofür benützt wird. Das machen wir heute in abgewandelter Form noch immer. Da geht es zum Beispiel auch darum, wie und mit welchem Titel man die zu schützenden Personen anspricht.
Wie haben sich die Aufgaben der Sondereinheit in den letzten 50 Jahren verändert?
Nur bedingt. 1972 wie 2022 gab es gefährliche Personen und solche, die geschützt werden müssen. Stark verändert hat sich hingegen die Ausbildung. Da wurde das Spektrum viel breiter und tiefer. Auch die Ausrüstung wurde viel komplexer. Früher hatten sie Schutzweste, Helm, eine Waffe und fertig. Heute sind die Möglichkeiten auch mit technischen Hilfsmittel sehr umfangreich.
Es gibt Fragen, die wir hier im Interview nicht stellen dürfen. Etwa zur Grösse der Einheit oder zu spezifischen Einsätzen. Warum die Geheimniskrämerei?
Wir wollen unsere Möglichkeiten nicht einfach offenlegen. Die Gegenseite soll nicht abschätzen können, wie wir ausgerüstet sind, wie wir uns in verschiedenen Situationen verhalten. Darum hat die Geheimhaltung einen hohen Stellenwert.
Die Geheimhaltung hat einen hohen Stellenwert.
Die Sondereinheit «Enzian» wird auch immer wieder kritisiert. Zum Beispiel seien Hausdurchsuchungen in besetzten Häusern übertrieben hart gewesen. Was sagen Sie zu diesem negativen Image?
Bei Aufgaben mit Gewaltanwendung, sei es eine gewaltsame Türöffnung oder körperliche Gewalt bei einer Festnahme, gehört es dazu, dass man mit Vorwürfen konfrontiert werden kann. Wir versuchen in der Ausbildung die Leute zu sensibilisieren, dass sie verhältnismässig bleiben.
Die andere Seite des Image ist, die verschworene Einheit, in der alle einen starken Zusammenhalt haben. Ist das ein Klischee?
Nein, das ist tatsächlich so. Man muss sich in extremen Situationen aufeinander verlassen können. Gerade weil es manchmal stark ans Limit geht, ist die Verbindung vielleicht noch tiefer.
Das Gespräch führte Christine Widmer.