Renato Häusler hatte einen einzigartigen und symbolträchtigen Job. Als Turmwächter der Kathedrale Lausanne verkündete er seit 2002 in der Nacht die Uhrzeit. Nun ist er Ende Jahr in den Ruhestand gegangen.
«Ich habe mich nie gelangweilt. Die Geschichte des Turmwächters von Lausanne ist einzigartig. Es war ein Privileg, hier arbeiten zu dürfen», sagt Renato Häusler in der Dunkelheit seines Belfrieds und blickt dabei über die Dächer von Lausanne.
C’est le ‹Guet›. Il a sonné dix. Il a sonné dix.
Nacht für Nacht spielt sich dasselbe Ritual ab, hoch oben in der geheimnisvollen Dunkelheit, die die Kathedrale von Lausanne umhüllt.
Der Wachposten dreht seine Runde mit einer Laterne in der Hand und einem Filzhut auf dem Kopf. Dabei ruft er in alle vier Himmelsrichtungen: «Es ist der ‹Guet›. Es hat zehn Uhr geläutet.»
Hunderte Jahre alte Tradition
Die Tradition des Nachtwächters, der von 22 Uhr bis zwei Uhr morgens den Stundenschlag verkündet, reicht weit in die Vergangenheit zurück. Der Wächter der Kathedrale von Lausanne ist die älteste noch lebende Tradition der Schweiz – seit 1405 verkündet er Nacht für Nacht während 365 Tagen im Jahr den Stundenschlag.
Ursprünglich musste der «Guet» von Lausanne aber nicht nur die Uhrzeit verkünden, sondern die Stadt vor Angriffen und Bränden warnen. Solche Turmwächter gab es im Mittelalter in ganz Europa. Ab dem 19. Jahrhundert verschwand die Tradition fast überall aus dem Stadtbild. Heute verbleiben nur noch wenige Turmwächter.
Einsame Stunden in der Nachtwächterloge
Im Stadtleben Lausannes ist der Turmwächter aber kaum mehr wegzudenken. Schon längst ist er ein Symbol geworden. Und doch weiss man immer noch wenig über den «Guet», dessen Stunde schlägt, sobald sich die Nacht über die Dächer legt und die Bewohnerinnen und Bewohner sich schlafen legen.
Ich muss nur noch die Uhrzeit verkünden.
«Der ‹Guet› ist eine Tradition, auch wenn sie heute obsolet geworden ist. Ich muss nicht mehr schauen, ob es brennt oder die Glocken läuten. Ich muss nur noch die Uhrzeit verkünden», sagt Häusler in der beheizten Loge im Glockenturm der Kathedrale. Hier hat er unzählige Nächte und Tausende von Stunden in der Einsamkeit verbracht. Inmitten jahrhundertealter Steine und Balken.
Der Einsiedler in Stadtnähe
Hin und wieder hat der Turmwächter, dessen Stimme man weitherum kennt, in seiner Kleinst-Unterkunft hoch über den Dächern von Lausanne Besuch empfangen. Von der kleinen Cléa etwa, die vor dem zu Bett gehen mit ihrer Laterne dem «Guet» zuwinkt.
Zwischen Häusler und der Dreieinhalbjährigen hat sich mittlerweile eine Freundschaft entwickelt. Schon mehrfach durfte sie mit dem Turmwächter den nächtlichen Stundenschlag verkünden. «Tu es prête? Un, deux, trois: c’est le ‹Guet›. Il a sonné dix. Il a sonné dix», rufen die beiden lauthals in die kalte Dezembernacht von Lausanne.
«Die Menschen wissen heute mehr über den ‹Guet›. Sie interessieren sich für dessen Geschichte und Tradition, weil er aussergewöhnlich ist», erklärt Häusler.
Nachfolgerinnen und Nachfolger stehen parat
Samt Stellvertretungen hat Renato Häusler seinen Beruf insgesamt 30 Jahre lang ausgeübt. Fünf Kolleginnen und Kollegen vertreten ihn künftig. Unter ihnen ist auch erstmals eine Frau, die 2021 ernannt wurde.
Seit dem 1. Januar ist auch eine neue Stimme zu hören. Jene von Alexandre Schmid, der die Nachfolge von Renato Häusler als neuer Turmwächter von Lausanne angetreten hat – einer Tradition, die es seit über 600 Jahren gibt.