Moderator Dominic Dillier läuft aus dem Sendestudio von SRF 3. Plötzlich steht ein Mann vor ihm. Sein Gesicht blutet. «Sofort war mir klar, dass er ein Einbrecher sein muss», sagt Dominic Dillier. Zu diesem Kriminalfall mitten in einer Sendung kam es vor ein paar Jahren. Es ist nur eine der vielen Geschichten, die sich im Zürcher Radiostudio Brunnenhof abgespielt haben.
Das schweizweit erste Gebäude extra fürs Radio
Bald geht diese Radio-Ära zu Ende. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von SRF 1, SRF 3, Radio SRF Musikwelle und Radio SRF Virus ziehen weg. Ab August wechseln sie an den Standort Zürich-Leutschenbach. Damit verlassen die Mitarbeitenden das erste Studio der Schweiz, das extra fürs Radio gebaut wurde. Es war seit 1933 in der Nähe des Bucheggplatzes in Zürich in Betrieb.
«Spezifisch für das neue Medium Radio ein Gebäude zu realisieren, war ein wichtiger Schritt», sagt Edzard Schade. Der Medienwissenschaftler und Medienhistoriker hat sich lange mit der Radiogeschichte befasst.
Gemäss Schade erreichte das Radio als erstes Medium ein Millionenpublikum. «Daher stehen auch seine architektonischen Einrichtungen für einen Epochenwandel», sagt Schade. Das Radiogebäude machte das neue Massenmedium sichtbar.
Der Direktor stürmt im Morgenrock ins Studio
Zur Anfangszeit des Studios 1933 empfingen über 100'000 Haushalte das Radioprogramm. Nur während einiger Stunden täglich wurde aus Zürich gesendet. Das Radio-Team war klein. Nebst den Musikerinnen und Musikern des Orchesters gab es nur wenige Mitarbeiter. Dazu gehörten ein Sprecher, ein Techniker, ein Reporter. Und der Studiodirektor.
Um dessen Work-Life-Balance stand es offenbar nicht zum Besten. «Der Studiodirektor wohnte im oberen Stock des Gebäudes», sagt Edzard Schade. «Missfiel ihm etwas an einer Sendung, rannte er im Morgenrock nach unten und intervenierte.»
Diese Anekdote erwähnte der Studiodirektor Jakob Job in älteren Aufnahmen nicht. Stattdessen sprach er über ein düsteres Kapitel in der Weltgeschichte. Denn 1933 entstand nicht nur das Radiostudio Zürich. Im selben Jahr ergriff auch Adolf Hitler die Macht.
«Wir mussten uns ständig gegen Übergriffe des deutschen Radios wehren», erinnerte sich Job im Rückblick. «Dies beispielsweise, wenn Nicht-Christen am Radio sprachen». Es gab zunehmend politische Druckversuche gegen die Pressefreiheit und die unabhängige Berichterstattung im Radio.
Tonaufnahmen wimmern, Reporter zittern
Während des Nationalsozialismus emigrierten zahlreiche deutsche Künstlerinnen und Künstler in die Schweiz. Einige von ihnen wirkten im Radiostudio Zürich mit. «Thomas Mann hatte beispielsweise Wohnsitz in Zürich und war immer wieder Mitarbeiter des Studios», sagte Job.
Als Interviewpartner waren nebst prominenten Gästen auch Anwohnerinnen und Anwohner willkommen. Das Radiostudio lag in ländlicher Idylle am Stadtrand Zürichs. Direkt daneben stand ein Bauernhof, sein Brunnen plätscherte vor sich hin. Mal beschrieben im Radio die Kinder aus der Nachbarschaft ihre Spiele am Wasser. Dann wieder sprachen die Bäuerin, ein Gärtner oder eine Grossmutter ins Mikrofon.
Das Radiostudio Zürich in seiner Anfangszeit
Ganze Hörspiele inszenierten die Mitarbeiter im Gebäude. «Alles wurde hauptsächlich live gesendet», sagt Medienwissenschaftler Edzard Schade. Zwar machte das Radio-Team schon früh erste Versuche mit Tonaufnahmen. Doch die Qualität liess zu wünschen übrig.
«Die Aufzeichnungen waren sehr unzuverlässig», sagte Arthur Welti in einem Rückblick. Er arbeitete seit 1933 als erster Reporter im Radiostudio Zürich. «Man zitterte und fürchtete sich vor dem Ergebnis. Die Schallplatten wimmerten, übersprangen Silben oder blieben in einer Rille hängen.»
Die wimmernden Schallplatten waren nicht die einzige Sorge der Mitarbeiter. Schon nach wenigen Jahren herrschte Platzmangel und sie brauchten ein grösseres Studio. Die Einweihungsfeier des Erweiterungsbaus fand 1939 statt. In diesem Jahr brach der Zweite Weltkrieg aus.
Von nun an bewachte das Militär das Radiostudio. «Man hielt es für eine kritische Infrastruktur. Es sollte verhindert werden, dass jemand unerlaubt ans Mikrofon geht», sagt Medienhistoriker Edzard Schade.
«Wollte ich Haus und Wohnung betreten, so hatte ich meinen Ausweis zu zeigen», schrieb Studiodirektor Job 1965 in der NZZ. «Wenigstens so lange, bis mich alle Mitglieder der Wachmannschaft kannten.»
Jahrelang prägte dieses «militärische Element» laut Job die Umgebung. Mit kleineren und grösseren Unterbrechungen. «Doch auch diese Jahre gingen vorbei», hielt der Studiodirektor fest.
Das Radio wandelt sich zum Begleitmedium
Von leichteren Momenten im Radioalltag zeugen alte Fotos und Tonaufnahmen. Die Mitarbeiter jassten zusammen. Sie rauchten im Studio. Oder sie gönnten sich im nahegelegenen Restaurant ein Bier.
Die Wirtin sprach in einer Radio-Sendung 1957 über solche Momente. «Wir hatten manche gemütliche Stunden», sagte sie. «Als die Herren noch ledig waren, durften sie sich noch mehr erlauben und waren lustig.» Einer nach dem anderen hätte jedoch geheiratet. Dadurch seien die Männer ernster geworden.
In den 1960er Jahren wandelte sich das Radio grundlegend. «Aus dem Einschaltmedium, das ein paar Stunden täglich gesendet hatte, wurde ein Begleitmedium», sagt Medienwissenschaftler Edzard Schade. Sendezeiten und Programm wurden ausgebaut. «Man brauchte zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und mehr Studios.»
Josephine Baker: «Wie geht es Sie?»
Ein neues Gebäude war dringend nötig. Der bekannte Schweizer Architekt Max Bill plante das achtstöckige Hochhaus. 1970 war es endlich so weit: Das Radio-Team feierte die Einweihung zusammen mit Hörerinnen und Hörern.
«Es war ein richtiges Volksfest», sagt Edzard Schade. Das Publikum strömte in Scharen ins Studio, das Orchester spielte auf. Sogar die amerikanisch-französische Künstlerin Josephine Baker sang. «Guten Abend, meine Damen und Herren, wie geht es Sie?», fragte sie das Zürcher Publikum zum Einstieg.
Jahre später spielten andere Stars wie Mark Knopfler oder Lenny Kravitz in den Konzertsälen des Radiostudios. Einen besonderen Auftritt hatte Lionel Richie. 2001 trat der Soulsänger in der Kantine auf, direkt neben dem Salatbuffet. «Die Tische wurden weggeräumt und eine einfache Bühne aufgestellt», erzählt Moderatorin Christina Lang. Sie hat das Konzert miterlebt.
«Platz für eine Band brauchte es nicht», sagt Lang. Denn Lionel Richie spielte alleine, Musik ertönte ab Band. Rund vierzig Zuschauerinnen waren beim Konzert dabei. Hörer konnten es live am Radio mitverfolgen.
Bestimmt roch die Kantine sogar noch nach Frittieröl.
Warum Lionel Richie in der Kantine sang, weiss heute niemand mehr. Wahrscheinlich waren die Konzertsäle an jenem Abend ausgebucht. «Wir verhielten uns jedenfalls so, als sei der Auftritt völlig normal», sagt Christina Lang.
Dabei sei die Szene unfassbar schräg gewesen. «Plötzlich stand ein weltbekannter Musiker da, wo wir gewöhnlicherweise für unser Mittagessen anstehen», sagt Lang. «Bestimmt roch die Kantine sogar noch nach Frittieröl.»
Eine Begegnung der anderen Art erlebte Dominic Dillier in den Büroräumen des Studios. Der Moderator stand während einer Spätschicht einem Einbrecher gegenüber. Jenem Mann mit blutendem Gesicht.
«Der Mann war relativ klein und wirkte nicht gewalttätig.» Deshalb ging der Moderator auf den Einbrecher zu und packte ihn. «Ich handelte intuitiv, ohne lange zu überlegen», sagt Dillier. Doch es gab ein Problem.
Polizeibefragung während der Sendung
Die Radiosendung war noch nicht zu Ende. Für einen Songwechsel musste Dominic Dillier zurück ins Studio. «Ich sagte dem Einbrecher also, er solle kurz warten.» Natürlich hielt sich der Eindringling nicht an diese Anweisung und rannte weg. Im Gepäck hatte er einige Laptops und den Hausschlüssel von Dillier.
Als die Polizei eintraf, begann eine aussergewöhnliche Befragung. Die Polizisten sassen mit Dominic Dillier im Studio. «Und während die Musik zwischen den Moderationen lief, gab ich meine Aussagen zu Protokoll.» Den künftigen Nutzerinnen des Gebäudes dürften solche nächtlichen Begegnungen erspart bleiben. Denn das Radiostudio wird zu einer Sekundarschule.
In drei Jahren sollen die Schulklassen einziehen können. Zuvor realisieren die Architekten den Umbau. Es ist keine leichte Aufgabe. Das Radiostudio ist ein komplexes Gemenge aus Häusern und eingebauten Elementen. Baustile verschiedener Epochen treffen aufeinander.
Das Losungswort des Architekten-Teams heisst: Entflechten. «Wir müssen das Radiostudio für die Schule vereinfachen», sagt Architekt Harald Echsle. «Deshalb befreien wir es von gewissen Einbauten und stellen die ursprünglichen, grossen Räume wieder her.» So entstehe der nötige Freiraum für die Schülerinnen und Schüler.
Wie sehen die Räume aus? Vier Beispiele zeigen die Veränderung
Die Schulzimmer werden sich im Hochhaus befinden. Diese vertikale Ausrichtung ist eine Herausforderung für den Betrieb. «Denn wenn die Schüler in die Pause gehen, sollten die Wege nicht zu weit sein», sagt Echsle. «Deshalb schaffen wir in den einzelnen Stockwerken Pausenräume.»
Grundsätzlich aber passt die Struktur des Hochhauses gemäss dem Architekten zu einem Schulhaus. «Denn ursprünglich war das Hochhaus für eine Gewerbeschule geplant», sagt Harald Echsle.
Das Radio-Team sollte um 1970 nur zwei Etagen beziehen. «Doch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernahmen die anderen Ebenen aus Platzgründen ebenfalls.» Nun geben die Radiomacher den Platz wieder frei.