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Aargauer Obergericht Bub während Mittagstisch aus Fenster gestürzt – wer haftet?

Vor dem Aargauer Obergericht wurde am Dienstag ein Fall verhandelt, der Fragen aufwirft. Eine Expertin schätzt ein.

Wer haftet, wenn ein Kind während der Betreuungszeit einen Unfall hat? Diese Frage stellte sich am Dienstag dem Aargauer Obergericht. Es hatte nicht nur die strafrechtliche Schuld und Bestrafung im Fall eines Neunjährigen, der aus dem Fenster sechs Meter in die Tiefe gestürzt war, zu klären. Sondern auch die Haftungsfrage.

Fenstersturz beim Mittagstisch

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Ein Neunjähriger ist 2020 in der Schule Laufenburg sechs Meter tief aus dem Fenster gefallen. Er hat sich schwer verletzt, musste ins Koma versetzt und am Kopf operiert werden.

Passiert ist der Unfall während seines Aufenthalts beim Mittagstisch der Schule. Die Betreuerin hatte den Raum für 30 Sekunden verlassen, um sich um ein anderes Kind zu kümmern. Vor dem Bezirksgericht wurde die Aufsichtsperson freigesprochen. Die Mutter des verletzen Jungen akzeptierte das Urteil nicht und zog es weiter ans Obergericht. Dieses weist jetzt die Berufung ab.

Die Mutter suchte – auch via Medienpräsenz – eine schuldige Person für den Vorfall an der Laufenburger Primarschule. Das scheint für einige verständlich, geben doch Eltern ihre Kinder an Schulen, in Kitas, am Mittagstisch in die Obhut externer Personen.

Eva Siegrist Stoll ist Rechtsanwältin und erklärt, was es in solchen Fällen abzuwägen gilt.

Eva Siegrist Stoll

Rechtsanwältin bei Rudin Cantieni

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Eva Siegrist Stoll ist Rechtsanwältin bei Rudin Cantieni Rechtsanwälte in Zürich, seit 2018. 2015 bis 2018 war sie Rechtsanwältin bei Rudin Rechtsanwälte, zuvor juristische Mitarbeiterin im Rechtsdienst des Departements Bildung, Kultur und Sport im Aargau.

SRF News: Wie weit geht die rechtliche Verantwortung für eine Betreuungsperson?

Das ist eine sehr komplexe Frage. Eine Betreuungsperson hat eine sogenannte Aufsichtspflicht. Das heisst, sie muss dafür sorgen, dass das Kind anderen keinen Schaden zufügt und sie muss auch dafür sorgen, dass dem Kind nichts zustösst. Dabei ist der Umfang der Aufsicht abhängig von den Verhältnissen im Einzelfall, insbesondere vom Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes.

Es macht also einen Unterschied, ob ein Kind drei Jahre alt ist oder 10?

Wenn es sich um normal entwickelte Kinder handelt, geht die Verantwortung für die Betreuung eines dreijährigen Kindes weiter als bei einem 10-jährigen Kind. Von einem dreijährigen Kind kann beispielsweise nicht erwartet werden, dass es weiss, dass es nicht schwimmen kann.

Von einem 10-jährigen Kind kann erwartet werden, dass es nicht in einen reissenden Fluss springt.

Von einem 10-jährigen Kind kann dagegen erwartet werden, dass es auf einem Spaziergang nicht einfach in einen reissenden Fluss springt.

Kann eine Organisation, ein Verein haftbar gemacht werden, wenn einem Kind etwas geschieht?

Im Haftpflichtrecht wird die Frage geklärt, wer die Kosten für einen entstandenen Schaden zahlen muss. Das kann eine Versicherung, eine Privatperson oder auch eine Organisation sein.

Es braucht zwischen Schaden und Ursache einen adäquaten Kausalzusammenhang.

Eine Haftung von einer Organisation ist unter Umständen denkbar, wenn sie zum Beispiel gesetzliche Vorgaben zur Höchstzahl der betreuten Kinder pro Betreuungsperson nicht einhält oder wenn die Betreuungsperson nicht die nötigen Fachkenntnisse hat. Und zwar dann, wenn zwischen Schaden und Ursache ein adäquater Kausalzusammenhang vorhanden ist.

Ein adäquater Kausalzusammenhang wird dann verneint, wenn das Kind etwas tut, mit dem niemand rechnen musste. Zum Beispiel, wenn ein 10-jähriges Mädchen auf der Schulreise plötzlich bei rot über die Strasse rennt.

Wie sieht es mit dem Eigentümer eines Gebäudes aus?

Ein Eigentümer haftet, wenn ein Schaden durch einen Werkmangel oder einen Mangel an einem Gebäude entstanden ist. Dabei wird vorausgesetzt, dass das Werk oder Gebäude bestimmungsgemäss benutzt wird. Das typische Beispiel aus dem Schulumfeld ist ein Ziegel, der herunterfällt und einen Passanten verletzt. Niemand muss damit rechnen, dass sowas passieren könnte, wenn er den Häusern entlang auf den Bus rennt.

Das Gespräch führte Andreas Brandt.

Urteil des Obergerichts

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Gebäude
Legende: Das Aargauer Obergericht in Aarau. Es hat den Fall verhandelt, nachdem er vor dem Bezirksgericht war. Zuvor wurde der Fall per Strafbefehl geregelt. Keystone/Gaetan Bally
  • Das Aargauer Obergericht hat in seinem Urteil die Berufung abgewiesen, die Angeklagte wurde freigesprochen. Der Bub habe mit gut neun Jahren ein Gefahrenbewusstsein und brauche keine 1:1-Betreuung, so das Obergericht. Die Sorgfaltspflicht sei nicht verletzt worden.
  • Die Anwältin der Mutter des Jungen forderte vor Obergericht einen Schuldspruch wegen fahrlässiger, schwerer Körperverletzung. Der Bub befindet sich wegen der Folgen des Sturzes noch in Behandlung.
  • Der Anwalt der Beschuldigten gab an, dass der Mittagstisch im Schulhaus von der Aufsichtsbehörde als tauglich befunden wurde. Nicht klar sei, ob das Fenster im Raum offen war oder nicht. Die Aussagen einer siebenjährigen Zeugin seien mit Vorsicht zu geniessen.
  • Die Staatsanwaltschaft hatte das erstinstanzliche Urteil akzeptiert. Es seien keine neuen Ausführungen bekannt geworden, sagte sie vor Obergericht.

Regionaljournal Aargau Solothurn, 28.03.2023, 17:30 Uhr ; 

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