Wer haftet, wenn ein Kind während der Betreuungszeit einen Unfall hat? Diese Frage stellte sich am Dienstag dem Aargauer Obergericht. Es hatte nicht nur die strafrechtliche Schuld und Bestrafung im Fall eines Neunjährigen, der aus dem Fenster sechs Meter in die Tiefe gestürzt war, zu klären. Sondern auch die Haftungsfrage.
Eva Siegrist Stoll ist Rechtsanwältin und erklärt, was es in solchen Fällen abzuwägen gilt.
SRF News: Wie weit geht die rechtliche Verantwortung für eine Betreuungsperson?
Das ist eine sehr komplexe Frage. Eine Betreuungsperson hat eine sogenannte Aufsichtspflicht. Das heisst, sie muss dafür sorgen, dass das Kind anderen keinen Schaden zufügt und sie muss auch dafür sorgen, dass dem Kind nichts zustösst. Dabei ist der Umfang der Aufsicht abhängig von den Verhältnissen im Einzelfall, insbesondere vom Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes.
Es macht also einen Unterschied, ob ein Kind drei Jahre alt ist oder 10?
Wenn es sich um normal entwickelte Kinder handelt, geht die Verantwortung für die Betreuung eines dreijährigen Kindes weiter als bei einem 10-jährigen Kind. Von einem dreijährigen Kind kann beispielsweise nicht erwartet werden, dass es weiss, dass es nicht schwimmen kann.
Von einem 10-jährigen Kind kann erwartet werden, dass es nicht in einen reissenden Fluss springt.
Von einem 10-jährigen Kind kann dagegen erwartet werden, dass es auf einem Spaziergang nicht einfach in einen reissenden Fluss springt.
Kann eine Organisation, ein Verein haftbar gemacht werden, wenn einem Kind etwas geschieht?
Im Haftpflichtrecht wird die Frage geklärt, wer die Kosten für einen entstandenen Schaden zahlen muss. Das kann eine Versicherung, eine Privatperson oder auch eine Organisation sein.
Es braucht zwischen Schaden und Ursache einen adäquaten Kausalzusammenhang.
Eine Haftung von einer Organisation ist unter Umständen denkbar, wenn sie zum Beispiel gesetzliche Vorgaben zur Höchstzahl der betreuten Kinder pro Betreuungsperson nicht einhält oder wenn die Betreuungsperson nicht die nötigen Fachkenntnisse hat. Und zwar dann, wenn zwischen Schaden und Ursache ein adäquater Kausalzusammenhang vorhanden ist.
Ein adäquater Kausalzusammenhang wird dann verneint, wenn das Kind etwas tut, mit dem niemand rechnen musste. Zum Beispiel, wenn ein 10-jähriges Mädchen auf der Schulreise plötzlich bei rot über die Strasse rennt.
Wie sieht es mit dem Eigentümer eines Gebäudes aus?
Ein Eigentümer haftet, wenn ein Schaden durch einen Werkmangel oder einen Mangel an einem Gebäude entstanden ist. Dabei wird vorausgesetzt, dass das Werk oder Gebäude bestimmungsgemäss benutzt wird. Das typische Beispiel aus dem Schulumfeld ist ein Ziegel, der herunterfällt und einen Passanten verletzt. Niemand muss damit rechnen, dass sowas passieren könnte, wenn er den Häusern entlang auf den Bus rennt.
Das Gespräch führte Andreas Brandt.