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Achtung Doppelmoral! Philosophin: «Politiker machen auch mit ihrem Verhalten Politik»

Ein Fall aus Ungarn: Der EU-Abgeordnete und Fides-Politiker József Szájer schrieb an Ungarns neuer Verfassung mit, die einen homophoben Familienartikel enthält. Kürzlich wurde Szájer selbst an einer Party für Homosexuelle in Brüssel erwischt. Das sei ein sehr schlimmes Beispiel von gelebter Doppelmoral, sagt Politphilosophin Katja Gentinetta. Auch in der Schweiz wird Doppelmoral gelebt. Und zwar nicht nur von Politikern.

Katja Gentinetta

Politikphilosophin und Universitätsdozentin

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Katja Gentinetta ist Politikphilosophin, Publizistin und Universitätsdozentin. Für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK begleitet sie Unternehmen und Institutionen in ihrer strategischen Entwicklung und berät sie bei gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Zudem referiert, publiziert und moderiert sie im In- und Ausland zu gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Themen. Während vier Jahren moderierte sie beispielsweise die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie».

Katja Gentinetta hat in Zürich und Paris Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert. Nach ihrer Promotion in politischer Philosophie hat sie sich in Harvard und Salzburg in Kultur- und Verwaltungsmanagement weitergebildet. Geboren und aufgewachsen ist Katja Gentinetta im Wallis. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Lenzburg AG und Paris.

SRF News: Wie ordnen Sie die Geschichte von József Szájer ein?

Katja Gentinetta: Für mich ist dies ein krasser Fall von Doppelmoral. Der Verstoss gegen Corona-Regeln ist das eine, aber die verfassungsrechtliche Diskriminierung von Homosexualität ist eine deutlich andere Sache, und das geschieht in einer Regierung, die sich explizit der illiberalen Demokratie verschreibt.

Das ist krass doppelmoralisch, vor allem, wenn der Mensch dieses Recht dann für sich in Anspruch nimmt.

Das heisst, hier geht es genau darum, bestimmte Menschen aufgrund ihrer angeborenen Eigenschaft zu diskriminieren. Und das ist krass doppelmoralisch, vor allem, wenn der Mensch dieses Recht dann für sich in Anspruch nimmt. Mich erinnert das an die DDR, die Verzicht für Wohlstand für alle gepredigt hat, aber den Parteibonzen erlaubt hat, ihr Ferienhaus zu besitzen und sämtliche westlichen Konsumprodukte jederzeit griffbereit zu haben.

Ein Beispiel aus der Schweiz: Da war ein national bekannter Politiker, der sich sehr für katholische Familienwerte einsetzte, aber heimlich ein uneheliches Kind hatte. Wie sehen Sie diesen Fall?

Dieser Fall ist nicht ganz so krass. Er zeigt die Verletzlichkeit oder die Unvollkommenheit des Menschen. Der Fall ist anders, weil dieser Politiker sich nicht dafür einsetzte, dass Ehebruch massiv bestraft wird. Aber der schale Beigeschmack bleibt, zumal sich hier eben genau das eigene Verhalten gegen die Parteimeinung stellt. Hier haben wir es mit einem Fall von «Wasser predigen und Wein trinken» zu tun. Und das erhöht die Glaubwürdigkeit in keinem Fall.

Es bleibt dem persönlichen Verantwortungsbewusstsein überantwortet, sich zu überlegen, wie weit man diese Regeln auslegt.

SRF News hat eine nicht-repräsentative Umfrage gemacht, bei der es um zwei andere Fälle von Doppelmoral ging. Dabei ging es um die Blasmusikkapelle im Ständerat und das Geburtstagsständchen für einen Bundesrat – teils ohne Masken – im Nationalrat. Die Umfrageteilnehmer waren sich einig: Das geht zurzeit gar nicht. Haben denn Politikerinnen und Politiker kein Recht, Fehler zu machen?

Politiker haben vor allem auch eine Vorbildfunktion. Die haben sie immer. Sie sind ganz normale Menschen, das ist klar. Aber sie sollten diese Normalität nicht gerade im krassen Gegensatz zu propagierten Verhaltensregeln oder zu Gesetzen demonstrieren. Und besonders befremdlich wird ein solches Verhalten dann, wenn es eben im direkten Gegensatz zu Parteimeinung steht. Politiker machen mit ihrem Verhalten immer auch Politik, und dessen müssen sie sich bewusst sein

Gilt das auch für Privatpersonen? Man kann sich nicht über das Skifahren anderer enervieren und dann selbst in die Ferienwohnung fahren?

So ist es, wenn öffentliche Regeln gelten. Und der Punkt ist auch, dass wir diese öffentlichen Regeln nicht bis ins letzte Detail formulieren können. Das heisst, am Ende bleibt es dem persönlichen Verantwortungsbewusstsein überantwortet, sich zu überlegen, wie weit man diese Regeln auslegt. Und gerade in einer Demokratie, wo wir für uns in Anspruch nehmen, mitreden zu können, mitentscheiden zu können, müssen wir dazu fähig sein.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

Newsplus vom 04.12.2020 ; 

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