Zum Inhalt springen

Administrative Versorgung Weggesperrt ohne Urteil

Alois Kappeler wurde als junger Mann im freiburgischen Bellechasse administrativ versorgt und erlebte dabei massive Gewalt. Die Alpträume sind bis heute geblieben.

43 Jahre seines Lebens hat Alois Kappeler in Heimen und Erziehungsanstalten verbracht – und das, ohne je kriminell gewesen zu sein. Als Kind von Fahrenden wurde Alois Kappeler nur zwei Tage nach seiner Geburt von seiner Mutter getrennt.

Von 1973 bis 1975 wurde Kappeler in Bellechasse im Kanton Freiburg administrativ versorgt. Nur ungern denkt der heute 65-Jährige an die Zeit in der Administrativhaft zurück, wo er massiver Gewalt seitens der Wärter ausgesetzt war: «Sie haben mich zu sechst genommen und mich gefoltert», erzählt Kappeler. «Sie haben mich mit einem Drahtseil festgebunden und dann mit einer Geissel zugeschlagen.»

«Die Alpträume sind geblieben»

Alois Kappeler ist kein Einzelfall. Von 1920 bis 1981 wurden rund 1500 Menschen in Bellechasse administrativ versorgt – meist Menschen, die nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen. Zusammen mit Strafgefangenen mussten sie unter zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen verschiedenste Arbeiten verrichten. Wer sich den Anweisungen der Wärter widersetzte, dem drohten harte Strafen und rohe Gewalt.

Bei Alois Kappeler haben die Erfahrungen in Bellechasse und in anderen Institutionen tiefe Spuren hinterlassen: «Alpträume habe ich tagtäglich, da kann ich nichts machen. Die sind geblieben.»

Gravierende Missstände

Im Auftrag des Bundesrates untersucht eine unabhängige Expertenkommission (UEK) derzeit die Geschichte der administrativen Versorgungen in der Schweiz bis 1981. Der Historiker Emmanuel Neuhaus hat sich im Auftrag der Expertenkommission mit dem Verhalten der Behörden im Fall Bellechasse auseinandergesetzt.

Die Regierungsstatthalter hätten damals praktisch alleine darüber entscheiden können, wer administrativ versorgt werde, erklärt Neuhaus. Besonders häufig habe es Kinder von Fahrenden, Menschen mit Alkoholproblemen, aber auch junge Frauen, die einen Lebenswandel führten, der den Behörden nicht genehm war, getroffen.

«Bei Paaren, die im Konkubinat lebten, kam es nicht selten vor, dass die Frau wegen Liederlichkeit versorgt wurde – weil sie zum Beispiel eine aussereheliche Sexualität gelebt hat», erklärt Neuhaus. Es habe aber auch Fälle gegeben, in denen den Frauen bloss der Ruf vorausgeilt sei, anderen Männern nicht abgeneigt zu sein. Solche Frauen habe man nicht selten als «Gefahr» für junge Männer betrachtet – und folglich in Bellechasse interniert.

Hilfe gezielt verhindert

Nicht wenige der administrativ Versorgten wurden in Bellechasse krank. Die damalige Direktion habe ganz gezielt verhindert, dass sich die Betroffenen gegen die schlechten Lebensumstände wehren konnten, sagt Anne-Françoise Praz, Geschichtsprofessorin an der Universität Freiburg und Vizepräsidentin der Expertenkommission.

«Die administrativ Versorgten haben sich in Briefen an die Behörden beklagt, dass sie zu wenig Nahrung erhielten», erzählt Praz. Die Briefe mit den kritischen Bemerkungen seien allerdings nie abgeschickt worden. «Die Direktion in Bellechasse hat das immer verhindert», so die Professorin.

Seit die Administrative Versorgung 1981 schweizweit abgeschafft wurde, ist Bellechasse eine reine Justizvollzugsanstalt. Alois Kappeler ist sich bewusst, dass die jetzige Gefängnisleitung nicht für die Missstände von damals verantwortlich ist. Dennoch wünscht er sich bis heute eine Reaktion: «Eine Entschuldigung kam nie.»

Meistgelesene Artikel