«Zu lange ist die AHV in den letzten zwanzig Jahren schlechtgeredet worden. Wir müssen das ändern», sagte der St. Galler SP-Ständerat und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes Paul Rechsteiner im Juni 2015 in der kleinen Kammer. Und in einer Broschüre des Schweizer Gewerkschaftsbundes möchte er der angeblich weitverbreiteten Desinformation um die AHV «Fakten entgegenhalten». Nur wer die Fakten kenne, könne sich wirkungsvoll an der politischen Diskussion beteiligen.
Ein Faktum des wichtigsten Schweizer Sozialwerks ist indes, dass das Umlageverfahren im engeren Sinn seit über 50 Jahren nicht mehr funktioniert: Seit 1964 reichen die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht mehr aus, um die laufenden Renten zu gewährleisten. Insofern ist das Argument der Linken obsolet, der wirtschaftliche Fortschritt – das heisst mehr Arbeitsplätze, höhere Löhne und allgemeines Wirtschaftswachstum – finanziere auch die länger laufenden Renten.
Situation nicht katastrophal, aber schlecht
Bis 2014 ist die Finanzierungslücke schleichend auf rund 11 Milliarden Franken gestiegen. Diesen Fehlbetrag muss laut Verfassung die öffentliche Hand – also wir alle – mittels Steuern, unter anderem aus allgemeinen Bundesmitteln, der Tabaksteuer und seit 1999 auch via Mehrwertsteuer ausgleichen.
Die Aussichten bezüglich Finanzierungslücke sind düster: Bis 2030 soll sie gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen auf 21 Milliarden Franken ansteigen. Doch das kümmert den SP-Ständerat offenbar wenig. In der erwähnten über 40-seitigen Broschüre finden sich dazu keine Angaben.
Gegenüber «ECO» sagt der bürgerliche Parlamentarier Pirmin Bischof, CVP-Ständerat SO: «Ich möchte nicht sagen, die finanzielle Situation der AHV ist katastrophal. Aber sie ist schlecht. Und was vor allem beunruhigend ist, sie wird sehr schnell, sehr viel schlechter.» Bischof ist Mitglied der ständerätlichen Kommission «Soziale Sicherheit und Gesundheit».
Paul Rechsteiner sieht es anders: «Wenn Sie die Finanzen genauer anschauen, ist die AHV das bestfinanzierte Sozialwerk überhaupt», sagt er im «ECO»-Studio. «Bei den Pensionskassen zahlen wir inzwischen über 18 Prozent Lohnbeiträge, bei der AHV sind es seit 1975 8,4 Prozent.» Dies sei möglich wegen des «genialen Finanzierungssystems der AHV»: eine unbeschränkte Beitragspflicht in Verbindung mit plafonierten Renten.
Tiefere und mittlere Einkommen betroffen
Wer sich die Botschaft zur Altersreform 2020 genauer ansieht, die SP-Bundesrat Alain Berset vorgeschlagen hat, stellt fest, dass systemnahe Änderungen bei der AHV, wie die Anhebung des Rentenalters für Frauen auf 65 Jahre, die finanzielle Schieflage des Sozialwerks nicht beheben. Bis 2030 sollen dadurch die Ausgaben (Rentenleistungen) um knapp 1 Milliarde auf 60 Milliarden Franken sinken, die Einnahmen (Beträge) sich bloss um 600 Millionen auf 39 Milliarden erhöhen. Das mindert das Defizit kaum.
Einen substanziellen Beitrag, um die AHV einigermassen im Gleichgewicht zu halten, wird einzig das geplante zusätzliche Mehrwertsteuer-Steuerprozent ab 2020 leisten. Dieses trifft die tiefen und mittleren Einkommen vergleichsweise stark, also genau die Klientel, für die sich die politische Linke und die Gewerkschaften traditionell einsetzen.
Unpopuläre Reformen wie eine Erhöhung der AHV-Beitragssätze, eine Kürzung der Renten, ein höheres Renteneintrittsalter oder eine Anpassung der Renten nur noch an die Preis-, nicht mehr an die Lohnentwicklung taxieren Paul Rechsteiner und die politische Linke als Sozialabbau und drohen jeweils mit dem Referendum. «Wir bekämpfen die Erhöhung des Rentenalters», lautet Rechsteiners dezidierte Antwort im «ECO»-Studio.
In 40 Jahren haben wir die AHV-Beiträge nie erhöht
Anfang April gibt das Bundesamt für Sozialversicherungen die AHV-Rechnung für 2015 bekannt. Vor Jahresfrist betrug das Defizit aus der Umlage 300 Millionen Franken. Heuer wird schon ein Minus von knapp 800 Millionen Franken erwartet.
Dieses kann auch der AHV-Fonds nicht mehr kompensieren, weil er 2015 einen Verlust auf den Anlagen eingefahren hat. Die Handelszeitung schrieb in der vergangenen Woche von rund 580 Millionen Franken Verlust laut dem bislang nicht publizierten Jahresbericht. Dennoch möchten Paul Rechsteiner und seine Genossen mit Hilfe der «AHVplus»-Initiative die Renten um 10 Prozent erhöhen. Seit 1975 habe sich die Zahl der Rentner mehr als verdoppelt, so Rechsteiner. Die Lebenserwartung sei so stark gestiegen wie vermutlich nie mehr in Zukunft. «Und in diesen 40 Jahren haben wir die AHV-Beiträge nie erhöht.»
Pirmin Bischof sagt dazu: «Die Initiative liegt nun derart quer in der Landschaft, dass man einfach sagen muss, es steckt kein Stück Realitätssinn dahinter.»