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Alt-Bundesräte über Schäuble «Schäuble hat für Gegner immer Toleranz und Verständnis geübt»

Der frühere deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble galt als Freund der Schweiz. Er wuchs nahe der Grenze im Schwarzwald auf und besuchte die Schweiz immer wieder auch für Ferien. Alt-Bundesrat Merz und Alt-Bundesrätin Leuthard erinnern sich an den Ausnahmepolitiker.

Mehr als ein Jahr waren sie ab Oktober 2009 gleichzeitig als Finanzminister für ihr Land tätig, der Deutsche Wolfgang Schäuble und der Schweizer Alt-Bundesrat Hans-Rudolf Merz. Die Finanzkrise war soeben mehr oder weniger überstanden und auf der Agenda stand die Debatte über den Steuerstreit der beiden Nachbarländer. Das führte zu hitzigen Diskussionen. Diskussionen, bei denen Schäuble die Schweiz gemäss Merz stets respektierte.

Zwei Männer schütteln sich die Hände
Legende: Der ehemalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble und sein Schweizer Pendant Hans-Rudolf Merz im Jahr 2010. KEYSTONE/Peter Klaunzer

Sein damaliges Gegenüber Hans-Rudolf Merz findet für Schäuble gegenüber SRF nur lobende Worte: «Er konnte unverblümte Wahrheiten sagen, zur Sache kommen und deutlich werden – aber hatte für Andersdenkende und für politische Gegner immer Toleranz und Verständnis geübt.»

Er hat Verständnis dafür gezeigt, dass die Schweiz nicht in die EU will.
Autor: Hans-Rudolf Merz Alt-Bundesrat

Dies habe sich auch beim Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU gezeigt, sagt Merz. «Er hat Verständnis dafür gezeigt, dass die Schweiz nicht in die EU will.» Laut Merz hat Schäuble nicht versucht, in der Schweiz für einen EU-Beitritt zu missionieren und habe diese auch nicht getadelt, sondern den Entscheid akzeptiert.

Der Verteidiger in Brüssel

Ebenfalls positive Worte für Schäuble findet Alt-Bundesrätin Doris Leuthard: «Er konnte sehr gut zuhören, vermitteln, war gleichzeitig hartnäckig und ist für seine Überzeugungen eingestanden.» Zudem habe er die Empfindlichkeiten der Schweizer Bürger, die direkte Demokratie, den Föderalismus und das Schweizer System insgesamt verstanden. Er habe es nicht nur verstanden, sondern auch gemocht. Er habe gewusst, dass Angelegenheiten in der Schweiz länger dauern als anderswo und Verständnis dafür gezeigt, sagt Leuthard.

Mann und Frau
Legende: Wolfgang Schäuble bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der damaligen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Jahr 2009. Schäuble war damals Innenminister und Widmer-Schlumpf Vorsteherin des EJPD. KEYSTONE/Alessandro Della Bella

So sei es dann auch nicht selten vorgekommen, dass Schäuble die Schweiz in Brüssel verteidigt hätte, wenn es zu Spannungen kam. Auch beim Rahmenabkommen, das unter anderem am Übernahmeverfahren von EU-Recht scheiterte. Laut Leuthard merkte Schäuble, dass die Schweiz in dieser Angelegenheit sehr sensibel ist. Und hat deshalb dem damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker nahegelegt: «Ihr müsst der Schweiz einen pragmatischeren Weg vorlegen.» Man könne von der Schweiz nicht verlangen, dass sie das Recht eins zu eins übernehme, wie es in der EU üblich sei.

In der heutigen Zeit bräuchte es mehr Politiker, wie er einer war, die mit Leidenschaft, Überzeugung und Bescheidenheit arbeiten (...).
Autor: Doris Leuthard Alt-Bundesrätin

Bei Juncker hat dies laut Leuthard dazu geführt, dass er der Schweiz den Weg der Schiedsgerichtsbarkeit vorschlug. Dies sei ein Beispiel, wie Wolfgang Schäuble hinter den Kulissen für die Schweiz gearbeitet habe.

«Handicap hat ihn nie behindert»

Leuthard hat an Schäuble das Pflichtbewusstsein und das Dasein für seine Aufgaben und die Menschen immer besonders beeindruckt. «In der heutigen Zeit bräuchte es mehr Politiker, wie er einer war, die mit Leidenschaft, Überzeugung und Bescheidenheit arbeiten – und langfristig und nicht nur an sich selber denken.»

Mann und Frau
Legende: Wolfgang Schäuble und die damalige Bundesrätin Micheline Calmy-Rey am Lucerne Festival 2007. KEYSTONE/Eddy Risch

Angesprochen auf die Beeinträchtigung von Schäuble, zeigen sich sowohl Merz als auch Leuthard beeindruckt. Schäuble hätte die Beeinträchtigung «cool» genommen und sein Schicksal akzeptiert, dies sei nicht selbstverständlich, sagt Merz. «Er war über 50 Jahre in der deutschen Politik massgebend, das Handicap hat ihn aber nie behindert.» Die Familie – und insbesondere seine Frau – als starker Rückhalt hätten dabei sicher geholfen.

Leuthard sagt, sie wusste, dass Schäuble starke Schmerzen gehabt hätte. Diese hätte man ihm aber nie angemerkt. «Das hat mich extrem beeindruckt.»

«Wolfgang Schäuble, ein Freund der Schweiz»

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Würdigung vom ehemaligen Deutschland-Korrespondent Stefan Reinhart:

«Es war ein hektischer Tag im Finanzministerium in Berlin 2012. Wolfgang Schäuble hatte Termine ohne Ende – unter anderem mit dem Schweizer Fernsehen. Schäuble war dennoch pünktlich, fast auf die Sekunde. ‹In der Schweiz darf man nicht zu spät kommen›, sagte er mit einem Grinsen. Das Interview begann, es ging um den Steuerstreit mit der Schweiz und um ein Steuerabkommen, das schliesslich versenkt wurde.

Schäuble kämpfte für das Abkommen, betonte immer wieder, wie wichtig gute Beziehungen Deutschlands zu einem ‹der am engsten befreundeten Staaten› war. Der Baden-Württemberger verstand die Schweiz, war auch für Schweizer Politikerinnen und Politiker immer wieder Ansprechpartner. Erreichbar via SMS auf seinem alten Nokia-Handy, an dem er im politischen Berlin wohl am längsten festhielt – auch dann noch, als alle schon ein Smartphone hatten. Im Kabinett brachte Schäuble die Schweizer Sicht immer wieder ein – Angela Merkel, die Ostdeutsche, war da politisch und emotional weiter weg.

Am Schluss war es eine Niederlage in Sachen Steuerabkommen – eine von vielen in Schäubles Leben und natürlich nicht die Bedeutendste. Doch Schäuble machte weiter – wurde Bundestagspräsident, als ein von allen Seiten hochgeachteter Politiker. Der auch in dieser Position einen guten und engen Kontakt zu Schweiz pflegte. Der abends bei Veranstaltungen in der Schweizer Botschaft in Berlin oft lange Gespräche führte, obwohl seine Frau Ingeborg schon lange zum Aufbruch mahnte. ‹Ich komme gleich›, sagte Schäuble immer wieder. Jetzt ist er für immer gegangen.»

Tagesschau, 27.12.2023, 19:30 Uhr ; 

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