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Altersbatzen für Sozialhilfe «Kässeli-Politik» auf dem Buckel von Bedürftigen

Gemeinden verlangen von Bedürftigen, ihre berufliche Vorsorge aufzulösen und damit die bezogene Sozialhilfe zurückzuzahlen. Durch diese Praxis bleiben Betroffene in der Armutsspirale gefangen. Ihr Leben lang.

Ein Leben in Armut ist bitter. Aus gesundheitlichen Gründen musste Rita Kuhn (Name geändert) eines Tages ihre Arbeit als Kassiererin aufgeben und war fortan auf Sozialhilfe angewiesen. Will heissen: Jeden Rappen zweimal umdrehen, keine Extras wie auswärts essen, keine Ferien.

Nach ihrer Pensionierung sollte es besser gehen. Dann würde Rita Kuhn von ihrer AHV und der Rente der Pensionskasse leben und wäre unabhängig von staatlicher Unterstützung. Schliesslich hat sie während eines grossen Teils ihres Erwerbslebens ihre Beiträge eingezahlt.

Gemeinde will halbes Altersguthaben einkassieren

Doch zwei Jahre vor ihrer Pensionierung wird Rita Kuhn auf die Gemeinde zitiert. «Man erklärte mir, ich könne mein Pensionskassengeld vorzeitig beziehen und wäre dann nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig», erzählt sie im SRF-Konsumentenmagazin «Espresso».

Was im ersten Moment sinnvoll tönt, verbirgt eine fragwürdige Absicht der Gemeinde: Kuhn sollte mit diesem Geld ihre Sozialhilfeschulden zurückzahlen. Konkret: Von ihrem Rentenguthaben wäre der Frau gerade einmal die Hälfte geblieben, rund 66'000 Franken.

Auf Ergänzungsleistungen angewiesen

Als Folge hätte Rita Kuhn nach der Pensionierung sofort Ergänzungsleistungen beziehen müssen, wäre also wieder auf staatliche Unterstützung angewiesen. Mit einem Unterschied: Für Sozialhilfe müssen die Gemeinden aufkommen, Ergänzungsleistungen werden von Bund und Kantonen finanziert.

Durch den vorzeitigen Rentenbezug muss die Gemeinde keine Sozialhilfe mehr leisten. Dafür werden später Bund und Kantone zur Kasse gebeten.

Pensionskassengelder dienen der Absicherung im Alter.
Autor: Tobias Hobi Anwalt UFS

Zulässig ist, wenn Gemeinden von auf Sozialhilfe angewiesenen Menschen verlangen, dass sie ihr Altersguthaben bereits vor der ordentlichen Pensionierung beziehen, um von diesem Geld und unabhängig von Sozialhilfe zu leben.

Experten: «Ungesetzlich» und «zweckwidrig»

Experten kritisieren aber, dass Bedürftige wie Rita Kuhn in einzelnen Kantonen die vorher bezogene Sozialhilfe aus diesem Altersguthaben zurückzahlen sollen. Dieses Vorgehen widerspreche der Sozialhilfegesetzgebung und den Richtlinien der Konferenz für Sozialhilfe (Skos).

Zudem muss bezogene Sozialhilfe nur dann zurückbezahlt werden, wenn Betroffene durch eine Erbschaft oder einen Lottogewinn zu neuem Vermögen gekommen sind.

Weitere Informationen

«Pensionskassengelder dienen der Absicherung im Alter», sagt Tobias Hobi, Anwalt bei der unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht. Aus diesen Geldern Sozialhilfeschulden zurückzufordern sei «ungesetzlich» und «zweckwidrig». Das Verschieben Bedürftiger von der Sozialhilfe zu den Ergänzungsleistungen ist für Hobi eine «unwürdige Kässeli-Politik auf dem Buckel der Betroffenen».

Verfügung angefochten

Der UFS-Anwalt hat die Verfügung der Gemeinde gegen Rita Kuhn angefochten. Ein Jahr ist inzwischen vergangen, ohne dass Hobi einen Entscheid oder nur eine Antwort bekommen hätte. Dem Anwalt sind weitere solcher Fälle bekannt. «Wir bekommen fast immer recht, wenn wir eine solche Verfügung anfechten», sagt er.

Dass ihr Vorgehen rechtlich auf dünnen Beinen steht, dürfte den Gemeinden bekannt sein. Ein grosses Risiko gehen sie trotzdem nicht ein. Betroffene kennen ihre Rechte meist nicht.

Espresso, 30.11.2020, 08:13

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