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Angebliche Gedankenkontrolle «Satanic Panic»: das Netzwerk hinter der Verschwörungserzählung

Ein Netzwerk von Fachleuten verbreitet die Erzählung in der Schweiz – auch in Justiz, Wissenschaft und Politik.

Die Verschwörungserzählung rund um satanistische Täter, Rituale und Gedankenprogrammierung ist schwierig zu stoppen – trotz kantonaler Untersuchungen, Schulungen von Fachpersonen und Sensibilisierungsmassnahmen an psychiatrischen Kliniken.

Eine Frau deckt sich mit einer Hand die Augen zu, mit der anderen wehrt sie jemanden oder etwas ab.
Legende: Täter programmieren Gedanken und können ihre Opfer fernsteuern: Das ist die Überzeugung von Psychiatern und Psychologinnen, die an die Verschwörungserzählung rund um «Mind Control» und «rituelle Gewalt» glauben. iStock / reklamlar

Recherchen von SRF Investigativ zeigen erstmals das Ausmass und die Folgen der Verschwörungserzählung in der Schweiz auf.

Verschwörungserzählung wird in Weiterbildungen verbreitet

In der Deutschschweiz werden oder wurden rund 600 Patientinnen wegen angeblicher Gedankenkontrolle behandelt. Dies gaben 70 Therapeutinnen und Therapeuten an, die an einer anonymen Online-Umfrage der Uni Bern teilgenommen hatten. Dies im Rahmen einer Masterarbeit, die SRF vorliegt.

Die Silhouette eines Mannes. Er hält sich die rechte Hand an die Schläfe.
Legende: Mehrere Dutzend Psychiaterinnen und Psychologen haben sich in Netzwerken zusammengeschlossen und verbreiten die Verschwörungserzählung weiter. iStock / solidcolours

Es ist keine repräsentative Umfrage, sie zeigt aber erstmals das mögliche Ausmass der Verbreitung auf. Die Universität Bern gibt an, man habe bei der Entstehung der Arbeit keine Kenntnis über die Verschwörungserzählung gehabt und würde die Arbeit heute nicht mehr durchführen.

Darum geht es bei der Verschwörungserzählung

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Die Anhängerinnen und Anhänger der Verschwörungserzählung sind davon überzeugt, dass Täter systematisch Menschen missbrauchen und deren Gedanken programmieren, sie quasi fernsteuern. Die Täter seien in einem Geheimbund organisiert.

Die Verschwörungserzählung hat mehrere Ausprägungen. Bei der «rituellen Gewalt» spielt die Ideologie der Täter eine wichtige Rolle. Anhängerinnen und Anhänger des Narratives gehen davon aus, dass es beispielsweise satanistische Täter gibt, die Frauen und Kinder in grausamen Ritualen foltern und missbrauchen. Sie würden Babys opfern und Menschenblut trinken, um Satan zu dienen.

Solche Erzählungen grassierten bereits in den 1980er-Jahren in den USA, wo dies als Verschwörungserzählung unter dem Namen «Satanic Panic» bekannt wurde.

Anhängerinnen und Anhänger der Verschwörungserzählung aus Psychiatrie und Psychologie rücken meist die Theorie «Mind Control» ins Zentrum. Sie gehen davon aus, dass es Täter mit Spezialwissen gibt. Diese sollen mit bestimmten Techniken die Gedanken ihrer Opfer programmieren und sie dann fernsteuern können.

Das Fundament der Verschwörungserzählung bildet die Diagnose der «dissoziativen Identitätsstörung». Wer daran leidet, hat zwei oder mehrere Persönlichkeitszustände. So definiert es die WHO in ihrem Klassifikationssystem der Krankheiten. Die Diagnose ist in Fachkreisen umstritten.

Die Anhängerinnen und Anhänger nutzen die Diagnose als Vehikel für die Erzählung – auf ihr bauen sie die Idee der Gedankenkontrolle auf.

Weiter hat sich in den vergangenen Jahren ein Netzwerk von Psychiatern und Psychologinnen gebildet, welches die Verschwörungserzählung rund um Gedankenkontrolle befeuert und weiterverbreitet. Beispielsweise durch Weiterbildungen, Fachbücher, Vorträge und Supervisionen für Fachpersonen. Aber auch durch Veranstaltungen für Politikerinnen und Politiker.

Das Gesicht einer Frau. Sie hält sich die rechte Hand ans Gesicht. Das Foto ist verschwommen.
Legende: Im Kanton Bern wurden Patientinnen an mehreren Kliniken wegen angeblicher Gedankenkontrolle behandelt. iStock / CasarsaGuru

Einer der Exponenten ist der renommierte Berner Psychiater Jan Gysi. Er gilt als Vordenker der Idee rund um Gedankenkontrolle in der Psychiatrie. So steht es etwa im Untersuchungsbericht des Kantons Bern zum Psychiatriezentrum Münsingen. Im vergangenen Herbst wurden durch diesen Bericht zwölf Fälle von Patientinnen bekannt, die in der Klinik wegen angeblicher Gedankenkontrolle therapiert wurden.

Gysi war an der Klinik Supervisor. Und: Der Psychiater war zudem Gründungsmitglied des «Verein für Opfersicherheit», der die Verschwörungserzählung in die Justiz und Polizei tragen wollte.

Elektronische Fussfesseln für angebliche Opfer

Der Verein wollte Opfer angeblicher Gedankenkontrolle etwa mit elektronischen Fussfesseln überwachen lassen, um Täter überführen zu können. Dafür suchte der Verein Kontakt zur Kantonspolizei Bern.

Das ausgedruckte Konzept des Vereins liegt auf einem Tisch. Auf dem Deckblatt ist eine Fussfessel abgebildet.
Legende: Der «Verein für Opfersicherheit» wollte Opfer angeblicher Gedankenkontrolle mit elektronischen Fussfesseln überwachen. SRF

Diese aber lehnte eine Zusammenarbeit ab. Grundsätzlich hält die Kantonspolizei fest, dass man solche Anfragen zur elektronischen Überwachung abschlägig beurteile: «Da wir es als Kantonspolizei als sehr heikel und einschneidend betrachten und es auch rechtlich gesehen problematisch wäre, Opfer in einem solchen Ausmass zu kontrollieren.»

Abgrenzung zu tatsächlichen Gewaltopfern

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Nicht umstritten ist, dass Menschen in der Schweiz Opfer von schwerstem sexuellem Missbrauch werden und organisierte Tätergruppen Menschenhandel und Zwangsprostitution betreiben. Die Opfer litten ein Leben lang unter den Folgen, seien schwer traumatisiert und benötigten Hilfe, sagt der forensische Psychiater Frank Urbaniok.

Davon müsse man die Verschwörungserzählung klar abgrenzen, sagt Urbaniok. Er beschäftigt sich seit längerer Zeit mit der Verbreitung der Verschwörungserzählung rund um satanistisch-rituelle Gewalt und Gedankenprogrammierung.

Die tatsächlichen Gewaltopfer würden nicht aus einer Ideologie heraus missbraucht, so Urbaniok. Bei der Verschwörungserzählung sei jedoch genau dies eines der Kernelemente – dass angeblich satanistische Täter Frauen in Ritualen missbrauchten, um ihre Gedanken zu programmieren. Weiter gebe es auch keine Beweise dafür, dass Täter über Spezialwissen verfügten und die Gedanken von Frauen programmieren könnten, um sie fernzusteuern.

Manche der Patientinnen, die wegen Gedankenkontrolle behandelt werden, haben tatsächlich Gewalt erlebt. Diese Erlebnisse und Erinnerungen werden nicht angezweifelt. Strittig ist alleine die Existenz von Tätern, die Gedanken programmieren und Menschen fernsteuern können. Dafür gibt es aktuell keine Belege.

Der «Verein für Opfersicherheit» antwortete nicht auf mehrere Anfragen von SRF Investigativ. Mittlerweile hat sich der Verein offiziell aufgelöst, das Netzwerk dahinter – aus Psychologinnen und Psychiatern – blieb gemäss Recherchen aber bestehen.

Jan Gysi will sich zu den Vorwürfen nicht äussern und teilt schriftlich mit: «Ich verwehre mich gegen die Verschwörungstheorie, Kopf eines Netzwerkes, Vordenker oder Agitator zu sein. Diese faktenwidrigen und persönlichkeitsverletzenden Unterstellungen weise ich mit aller Entschiedenheit zurück.» Und zu der Idee der elektronischen Fussfesseln hält er fest: «Das Projekt wurde 2021 bereits in einer frühen Abklärungsphase sistiert. Es wurde nie auch nur ansatzweise umgesetzt.»

Das schreibt Jan Gysi zu den Vorwürfen

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Jan Gysi wollte sich nur schriftlich zu den Vorwürfen äussern.

Er schreibt, dass es sich bei der Diskussion um sogenannte «Mind-Control» und «ritualisierte Gewalt» um einen emotional aufgeladenen Experten- und Expertinnenstreit handle. Dieser Streit um Definitionen und Therapiekonzepte werde medial zunehmend mit haltlosen Unterstellungen personalisiert und habe die Ebene eines redlichen und sachlichen Diskurses längstens verlassen.

Als Mediziner und Wissenschaftler fühle er sich der Wissenschaftlichkeit verpflichtet und orientiere sich an international anerkannten Standards. Er distanziere sich von allen Arten von Verschwörungsnarrativen und ihrem Einsatz im therapeutischen Kontext.

Für ein Interview stehe er nicht zur Verfügung. Es fehle das Vertrauen, dass er im Rahmen einer ausgewogenen Berichterstattung mit Respekt und Fairness angehört würde.

Der Psychiater suchte auch die Zusammenarbeit mit der obersten Polizeibehörde des Bundes, dem Bundesamt für Polizei Fedpol.

Er verfasste einen internationalen Aufruf an Ermittlerinnen und Ermittler. Sie sollten Belege dafür finden, dass tatsächlich Täter mit Spezialwissen zu Gedankenkontrolle existierten. Das Fedpol distanziert sich auf Anfrage, das Dokument habe man nicht verwendet. Man befasse sich nicht mit der Thematik. Für Psychiater Gysi war es laut eigenen Aussagen lediglich eine Projektidee.

Der Psychiater bestätigt, dass aktuell zwei Verfahren gegen ihn laufen: eines im Kanton Bern, das andere bei der Ärztegesellschaft.

Kantone und Verbände leiten Verfahren ein

Die Aktivitäten einzelner Psychologen und Psychiaterinnen, die an die Verschwörungserzählung glauben, können als Einzelfälle angesehen werden. Gemessen an den vielen tausend Menschen, die jedes Jahr wegen eines psychischen Leidens behandelt werden.

Das sind klare Behandlungsfehler und das ist nicht akzeptabel.
Autor: Cathy Maret Sprecherin Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen

Für den Berufsverband der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP ist jedoch klar: Jeder Fall einer Patientin, die wegen der Verschwörungserzählung behandelt wird, ist einer zu viel. Die Verbreitung der Erzählung und die Behandlung von Patienten wegen angeblicher Gedankenkontrolle müsse gestoppt werden. «Das sind klare Behandlungsfehler und das ist nicht akzeptabel», sagt FSP-Sprecherin Cathy Maret.

Aktuell laufe ein Verfahren gegen ein Verbandsmitglied. Um mögliche weitere Fälle aufzudecken und zu untersuchen, sei man auf konkrete Hinweise und Belege von betroffenen Patientinnen oder deren Umfeld angewiesen. Nur dann könne man allfällige weitere Verfahren gegen Psychologinnen und Psychologen einleiten. Als konkrete Massnahme drohe der Ausschluss aus dem Verband.

Zu sehen ist das Auge eines Mannes, der in einen Handspiegel schaut.
Legende: Berufsverbände und Behörden haben Verfahren gegen einzelne Therapeutinnen und Therapeuten eingeleitet. iStock / Favor_of_God

Deutlich weiter können die Kantone gehen, sie können etwa die Bewilligung zur Berufsausübung entziehen. Der Kanton Bern ist besonders von der Verschwörungserzählung betroffen. Diese hat sich in zwei psychiatrischen Kliniken festgesetzt, 21 Fälle kamen ans Licht. «Aktuell laufen gegen zwei Personen Verfahren», sagt Gundekar Giebel von der bernischen Gesundheitsdirektion. Weitere könnten folgen, wenn genügend konkrete Hinweise eingingen.

Menschliches Leid und hohe Kosten

Die geringe Anzahl an Verfahren weist darauf hin, wie schwierig und hürdenreich es für Behörden und Berufsverbände ist, die Verschwörungserzählung einzudämmen.

Die Schäden durch Behandlungen ziehen Folgekosten nach sich.
Autor: Frank Urbaniok Forensischer Psychiater

Die Patientenorganisation Pro Mente Sana fordert deshalb, dass eine nationale Ombudsstelle eingerichtet wird, damit sich betroffene Patientinnen möglichst einfach melden können. Denn meist seien sie psychisch zu stark belastet, um ein langes und kompliziertes Verfahren anzugehen.

Links im Vordergrund sitz eine Frau, sie macht sich Notizen in ein Heft. Im Hintergrund sitzt eine Frau.
Legende: Die Überzeugung, dass Täter Gedanken programmieren können, entsteht manchmal in der Therapie – so schildert es der forensische Psychiater Frank Urbaniok. Imago / Zoonar

Für den forensischen Psychiater Frank Urbaniok geht es auch noch um einen weiteren Aspekt: die Kosten. «Die Schäden durch Behandlungen ziehen Folgekosten nach sich. Das ist kostenintensiv und hat deshalb einen versorgungspolitischen Aspekt.» Ein Klinikaufenthalt koste mehrere tausend Franken.

Frank Urbaniok sieht die Hauptproblematik der Verschwörungserzählung rund um Gedankenkontrolle darin, dass Therapeuten und Therapeutinnen falsche Erinnerungen mit den Patientinnen erzeugen würden, für die es keine reale Grundlage gebe. Oder dass Erinnerungen von Patientinnen und Patienten ausgebaut und chronifiziert würden: «Beide Interventionen sind klare Behandlungsfehler.»

Die Silhoutte einer Frau, die am Boden sitzt. Man sieht sie durch eine verschwommene Scheibe hindurch.
Legende: Manche der betroffenen Patientinnen brauchen eine Therapie, um die Verschwörungserzählung hinter sich lassen zu können. Shutterstock / Ratta Lapnan

Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie hält dazu auf der Webseite allgemein fest, dass suggestive, beeinflussende Behandlungsmethoden einen therapeutischen Missbrauch darstellten: «Geführte Imaginationen zu bisher nicht erinnerten möglichen Ereignissen gelten als Kunstfehler.»

Womit sich auch die Frage stellt, ob betroffene Patientinnen nicht Anspruch auf eine Wiedergutmachung hätten.

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SRF 1, Echo der Zeit, 28.06.2023, 18.00 Uhr

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