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Armut in der Schweiz 2400 Franken, zwei Kinder, null Perspektive

Desirée Schlup ist es wichtig, über Armut zu sprechen, weil so viele Menschen davon betroffen sind: «Es gibt viele Leute, die wenig Geld haben. In der Schweiz merkt man das gar nicht so. Man macht auf die aufmerksam, die sich viel leisten können, auf die anderen selten.»

Deshalb ist sie auch bereit, am Radio über ihre Situation zu reden. Die ist nicht einfach: Für sich und ihre beiden Kinder erhält sie von der Sozialhilfe 2400 Franken im Monat. Die beiden Kinder sind 6 und 7 Jahre alt. Nach Abzug von Miete, Nebenkosten und Versicherungen bleiben ihr noch etwa 800 Franken.

Verzicht auf viele Annehmlichkeiten

Die Familie Schlup muss auf vieles verzichten: «Man kauft die Kleider in der Börse, man verzichtet auf einen Freibad-Eintritt, man geht nicht in den Ausgang, man geht nicht auswärts essen. Man nimmt das Geld, das man hat und schaut, was man damit machen kann.»

Auf Einladung des Reporters sitzt die 31-Jährige mit den kurzen dunkelbraunen Haaren in einer Gartenbeiz in ihrem Wohnort Dulliken und trinkt eine kalte Schokolade. Eben hat sie ihre beiden Kinder in die Schule gebracht. Grosse Sprünge seien für sie nicht möglich, etwa eine Reise während der Sommerferien: «Reisen liegen weniger drin. Man kann auch hier schöne Sachen machen. Ich habe das Glück, dass meine Eltern einen Garten haben, und meine Kinder konnten dort baden gehen.»

Ferien zu Hause, Kleider aus dem Second-Hand-Laden und auch beim Essen muss die Familie Schlup aufs Geld achten: «Ich schaue auf die Aktionen oder kaufe M-Budget-Artikel oder Prix Garantie. Markenartikel kaufe ich sicher keine ein.»

Armutsfalle schnappt nach Trennung zu

In ihre finanziell schwierige Situation kam Desirée Schlup, weil ihr früherer Partner gewalttätig war. Sie trennte sich von ihm und beschloss, sich Vollzeit um die kleinen Kinder zu kümmern. Daneben reicht die Zeit nicht für einen Job.

Inzwischen hat im Schulhaus gleich nebenan die Pausenglocke geklingelt: Die Schulkinder spielen auf dem Pausenplatz. Darunter Lorena und Yannik, die Kinder von Desirée Schlup.

Ihre Kinder sind ihr das Wichtigste. Ein schlechtes Gewissen, dass sie ihnen keine Markenkleider kaufen und auch keine grossen Reisen bieten kann, hat sie nicht: «Die Kinder sind zufrieden damit, sie kennen nichts anderes.»

Freunde sind überlebenswichtig

Gut 600'000 Menschen sind in der Schweiz von Armut betroffen. Hunger leiden müssen sie nicht, aber wer sehr wenig Geld hat, kann kaum am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Auch Desirée Schlup geht nie ins Kino oder Theater, ganz selten besucht sie mal ein Konzert, dank ihren Freunden: «Ich habe das Glück, dass sich auf meinen Geburtstag hin die Leute zusammenschliessen und mir ein Konzert finanzieren.»

Während Durchschnittsschweizer regelmässig ins Ausland reisen, haben Armutsbetroffene einen viel kleineren Lebensradius: Die Familie Schlup kann sich kein Auto leisten. Ausflüge sind selten. Zum Einkaufen gehen sie etwa nach Aarau und Olten, nicht viel weiter.

«Versteckt euch nicht»

Die fehlenden Perspektiven, das ist laut Experten eines der grössten Probleme für arme Menschen. Perspektiven geben Hoffnung, Kraft. Fehlen sie, drohen vielen Betroffenen Depressionen.

Auch Desirée Schlup sieht momentan wenig Möglichkeiten, der Armutsfalle zu entkommen: Die Betreuung ihrer Kinder komme zuerst. Erst wenn die Kinder grösser seien, könne sie sich vorstellen, wieder zu arbeiten. Am liebsten in ihrem gelernten Beruf als Verkäuferin. Trotz all der Einschränkungen beklagt sich Schlup nicht über ihr Leben. Ihre Botschaft an andere Betroffene lautet: «Versteckt euch nicht, auch wenn ihr nicht viel Geld habt. Das macht die Situation nicht besser.»

Indem sie von ihren eigenen Erfahrungen erzählt, will sie anderen armen Menschen Mut machen und die Gesellschaft auffordern, die Armen nicht zu ignorieren.

Konferenz gegen Armut 2018

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Im Rahmen der Nationalen Konferenz gegen Armut (2014-2018) haben die Partner des Programms heute eine positive Bilanz der Arbeit in den vergangenen Jahren gezogen. Es gebe aber noch enorm viel zu tun, sagte Sozialminister Alain Berset in seiner Eröffnungsrede. Armut sei in einem so reichen Land wie der Schweiz nicht akzeptabel. Immerhin habe das Programm, das noch bis Ende Jahr läuft, Schritte in die richtige Richtung möglich gemacht.

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