Die Geschichte der Partizipation – des Mitspracherechts – von Flüchtlingen bei der Gestaltung des Schweizer Asylprozesses gehört nicht gerade zu den am besten erforschten Fachgebieten. Das weiss auch Historiker Jonathan Pärli. «Zuerst denkt man wohl an die Sprachbarrieren», sagt Pärli, der sich intensiv mit dem Thema befasst hat.
Denn auf den ersten Blick scheint klar: Wer mitreden will, muss sich erst einmal ausdrücken können. Doch genau dieses Argument mit der Sprachbarriere stimme nicht, sagt der Historiker. «Beispielsweise landen viele Menschen aus dem frankophonen Afrika in der Romandie.» Diese Fälle zeigten, dass auch ohne Sprachbarriere keine Mitsprache der Flüchtlinge im Asylprozess stattfindet.
Keine Aussprache mit der Direktion
Untersucht hat Pärli zum Beispiel einen Fall im Freiburgischen. Dort wurden in den 1980er-Jahren zahlreiche Französisch sprechende Flüchtlinge aus Zaire, der ehemaligen Kolonie Belgisch-Kongo, in Asylunterkünften untergebracht. Die Asylbewerberinnen und -bewerber hätten verschiedentlich versucht, eine Aussprache mit der Direktion zu erhalten – was jedoch auf wenig Verständnis gestossen sei.
Es habe daraufhin eine improvisierte Medienkonferenz gegeben, auf der die Direktorin der Flüchtlingsunterkunft den unzufriedenen Menschen aus Zaire die Leviten gelesen habe. «Ihr sägt am Ast, auf dem ihr sitzt!», sagte die Französisch sprechende Direktorin der Asylunterkunft den Französisch sprechenden Männern und Frauen aus Zaire: «Vous sciez la branche sur laquelle vous êtes assis!»
Flüchtlinge haben dankbar zu sein
Damit sei so deutlich zum Ausdruck gebracht worden, die Flüchtlinge hätten dankbar zu sein und gefälligst jenen Platz anzunehmen, den man für sie vorgesehen habe, sagt Historiker Pärli. Genau dieses Bild des Flüchtlings als passives, demütiges Opfer sei der aktiven Forderung nach Mitspracherecht häufig im Wege gestanden.
Ich hoffe, dass wir in zwei, drei Jahren so weit sind, dass wir sagen können: Es hat sich etwas verändert.
Das tue es wohl auch heute noch, sagt Anja Klug, Leiterin des Schweizer Büros des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Wenn auch ein leiser Wandel spürbar sei: Sie sehe eine wachsende Bereitschaft, aufseiten der Hilfsorganisationen, aber auch aufseiten der Schweizer Behörden, die Perspektive der Asylsuchenden zumindest wahrzunehmen.
Damit die Asylbewerberinnen und -bewerber allerdings einen institutionell verankerten, festen Bestandteil im Asylprozess erhalten würden, brauche es Geduld. «Ich hoffe, dass wir in zwei, drei Jahren so weit sind, dass wir sagen können: Es hat sich etwas verändert.»
Ukrainerinnen äussern ihre Bedürfnisse
Die aktuelle Situation mit den vielen Flüchtlingen aus der Ukraine sieht Klug im Bereich des Mitspracherechts als Chance. Denn viele Ukrainerinnen und Ukrainer seien sich gewohnt, ihre Stimme zu erheben und Bedürfnisse zu äussern. Und sie würden damit auch häufiger auf offene Ohren stossen. «Das könnte uns helfen, in dem Bereich ein Stück weit weiterzukommen.»
Die Historiker haben Menschen, die flüchten mussten, lange Zeit bloss als gesichtslose Masse betrachtet.
Für den Historiker Pärli gibt es aber auch in einem anderen Bereich Aufholbedarf: In der Geschichtsschreibung. Also, wie in Geschichtsbüchern über Flüchtlinge geschrieben wurde und wird. «Die Historiker haben Menschen, die flüchten mussten, lange Zeit bloss als gesichtslose Masse betrachtet – oder sie gar nicht erwähnt.» Erst jetzt sei man daran, nach alten Quellen zu suchen, die die Perspektive der Asylsuchenden abbildeten.
So könne den Flüchtlingen zumindest in den Geschichtsbüchern rückwirkend eine Stimme gegeben werden, betont Pärli.