Sind die Schweizer Atomkraftwerke sicher? Oder sollte man sie spätestens nach 45 Betriebsjahren abschalten? Darüber entscheidet das Schweizer Stimmvolk am 27. November .
Was halten Energiefachleute, die sich während Jahrzehnten mit der Materie befasst haben, von der Atomausstiegs-Initiative der Grünen? SRF News hat vier von ihnen befragt.
Marcos Buser wird in einem Monat ein Ja in die Urne legen. Dasselbe würde der Deutsche Dieter Majer tun. Warum, das erklären die beiden im Gespräch mit SRF News.
Eigentlich ist diese Technologie genial. Aber auch teuflisch. Denn der Mensch kann damit nicht umgehen.
«Ich bin für einen möglichst schnellen Ausstieg und werde ganz klar mit Ja abstimmen. Diese Technologie ist nicht sicher genug.
Bei der Planung der Atomkraftwerke ging man von 30 bis 40 Betriebsjahren aus. Inzwischen hat man die Laufzeit stetig verlängert und Leistungserhöhungen vollzogen, damit die Werke mehr rentieren. Das hat Konsequenzen auf den Alterungsprozess. Das Risiko nimmt ständig zu – trotz Nachrüsten.
Ein Störfall ist jederzeit möglich
Wenn wir sagen könnten, ‹im schlimmsten Fall putzen wir die Trümmer nachher zusammen›, und die Menschen könnten weiterleben in der Umgebung, dann würde ich die AKW auch weiterlaufen lassen. Doch wir haben es mit hochgradig gefährlichen Stoffen zu tun.
Ein Störfall mit Freisetzung von Radioaktivität ist jederzeit möglich – auch in Europa. Deshalb sollte man die Risiken möglichst bald in einen kontrollierten Zustand überführen – mit einem Fahrplan für das Abschalten und den notwendigen Sicherungsmassnahmen für den neuen Strombezug.
Es fehlt am Willen
Der Bund gibt jährlich 67 Milliarden aus. Warum kann er nicht mit einer Milliarde pro Jahr die Entwicklung erneuerbarer Energien fördern? Es fehlt am Willen, tatsächlich etwas zu machen. Man verbringt die Zeit lieber in Sitzungen.
Stellen Sie sich vor, man müsste ein Werk wie Leibstadt aus einem bestimmten Grund von heute auf morgen vom Netz nehmen. Dann müsste man mit dieser Situation umgehen – ungeplant.
Teuer wird es sowieso – und mit dem Zuwarten noch viel teurer. Das war noch in jedem Projekt so und ist insbesondere der Fall bei der Entsorgung von radioaktiven Stoffen. Die Gesellschaft muss diese Milliardenbeträge so oder so bezahlen. Es gibt noch Träumer, die glauben, die Kernenergie habe Zukunft. Doch sie ist insgesamt schlichtweg zu teuer im Vergleich zu den erneuerbaren Energien. Eigentlich ist diese Technologie genial. Aber auch teuflisch. Denn der Mensch kann damit nicht umgehen.»
Die Sicherheitsphilosophie des Ensi gibt es nur in der Schweiz – und sonst nirgends auf der Welt.
«Ich habe mich intensiv mit den Schweizer Anlagen beschäftigt, insbesondere mit Beznau und Mühleberg. In beiden Fällen ist der Betrieb eigentlich nicht mehr vertretbar.
Erstens sind die Anlagen gealtert: Die Belastungsfähigkeit der Materialien nimmt ab. Beispielsweise versprödet die Reaktordruck-Komponente – die wichtigste Komponente – durch Neutronenstrahlung. Dieser Prozess ist sehr weit fortgeschritten, und in Beznau hat man zusätzlich noch Gaseinschlüsse gefunden, die jetzt untersucht werden.
Vieles nicht nachrüstbar
Zweitens sind die Anlagen insgesamt veraltet. In den letzten 40 Jahren hat man bezüglich Stör- und Unfällen viele Erfahrungen gesammelt. Daraus haben sich Notwendigkeiten ergeben, die man heute beim Bau neuer Anlagen berücksichtigt. Vieles davon ist in Mühleberg und Beznau nicht mehr nachrüstbar, weil es beispielsweise die Raumverhältnisse nicht zulassen.
So baut man heute räumlich getrennte Notkühleinrichtungen, damit beim Ausfall eines Systems das andere nicht mitgeschädigt wird. In Mühleberg führen beide Systeme durch einen gemeinsamen Raum. Wenn einer der Kühlstränge defekt ist, kann der zweite in Mitleidenschaft gezogen werden, und eine Kühlung ist dann nicht mehr möglich. Das sind essentielle Dinge. Und die können nicht nachgerüstet werden.
Ensi orientiert sich nicht am Notwendigen
Trotzdem will das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) keine generelle Laufzeitbeschränkung, sondern entscheidet im Einzelfall: Ist die Anlage sicher, darf sie betrieben werden – egal, wie alt sie ist. Das Ensi spricht vom ‹Stand der Nachrüsttechnik›, der eingehalten sei. Daraus geht hervor, dass sie sich nicht an neuen Anlagen orientieren und an dem, was heute als notwendig erachtet wird, sondern an alten Anlagen und an dem, was noch machbar ist.
Was dieser ‹Stand der Nachrüsttechnik› genau ist, verrät das Ensi nicht. Wir haben zigmal nachgefragt. Es kam zu keinem Zeitpunkt eine klare Aussage. Er wird im Einzelfall festgelegt und ist bei Mühleberg wohl ein anderer als bei Leibstadt, obwohl beides Siedewasser-Reaktoren sind. In Mühleberg wird ein Kernmantel mit Rissen akzeptiert. In Leibstadt würde man das vermutlich nicht akzeptieren.
Ich kenne das Ensi und die Vorgängerinstitution HSK seit Jahrzehnten. Zwar bin ich Ausländer, und ich halte die Schweiz insgesamt sonst eigentlich für ein sehr seriöses Land. Doch ich glaube, dass im Ensi nur Leute arbeiten, die glauben, dass die Kernenergie notwendig ist. Diese Sicherheitsphilosophie, die das Ensi vertritt mit der ‹Stand der Nachrüstungstechnik›, das gibt es nur in der Schweiz – und sonst nirgends auf der Welt.»
Protokoll: Viviane Bühr