«Ich möchte, dass niemandem mehr so etwas angetan wird wie mir. Es muss aufhören!» Das sagt eine Somalierin, die in der Sprechstunde von Dr. Jasmine Abdulcadir sitzt. Sie ist eine von vielen Frauen, die deswegen zu der Frauenärztin kommen. Sie haben in ihrem Heimatland Schreckliches erlebt und leiden heute noch unter den Folgen.
In 30 Ländern wird Genitalverstümmelung praktiziert: Mädchen und Frauen werden aus Tradition auf verschiedene Arten genital beschnitten. In einigen Regionen danach gar zugenäht.
«Eine der verschiedenen Arten der Genitalverstümmelung ist die Infibulation, dies ist die Verengung der Vulva. Die infibulierten Frauen können unter urinären Problemen leiden, zum Beispiel, dass sie nicht richtig Urin lösen können, weil die Öffnung so klein ist.» Es dauere jeweils 10 bis 15 Minuten, bis ihre Blase geleert sei.
Diese Frauen könnten auch Menstruations- und sexuelle Beschwerden aufweisen, erklärt die Spezialistin für Genitalverstümmelung am Universitätsspital Genf. Diese Verengung kann operativ geöffnet werden. Für eine natürliche Geburt ist eine Operation gar zwingend.
Wenn sie dann in der Schweiz sind, merken die Frauen auf einmal, dass Genitalverstümmelung nicht normal ist: «In ihren Herkunftsländern hat sie Tradition, die Frauen gelten als schön und sauber, wenn sie beschnitten sind. Diese Erkenntnis kann in den Frauen ein Leiden auslösen.»
Behutsamer Umgang mit Betroffenen
Es sei deshalb besonders wichtig, dass sie Anlaufstellen hätten, wo sie gut beraten würden: «Die Patientinnen zu informieren, ist ein wichtiger Bestandteil unserer Betreuung und Behandlung. Ich erkläre zum Beispiel einer 40-jährigen Frau, dass sie eine intakte Klitoris hat, oder kann jemandem mit einer Operation oder einem Rat weiterhelfen. Ich habe Frauen behandelt, die mit 60 Jahren zum ersten Mal offen über ihre Beschneidung sprechen konnten.»
Genitalverstümmelung ist ein Tabuthema – in den betroffenen Familien, aber zum Teil auch beim medizinischen Personal. Seit zehn Jahren führt Abdulcadir Beratungen und Operationen für beschnittene Frauen durch. Sie schult auch Ärzte und Pflegepersonal im In- und Ausland.
Die Thematik sei sehr vielfältig und auch sehr heikel, ein sensibles Vorgehen sei darum zwingend: «Das Erlebnis und die Art der Verstümmelung sind bei jeder Frau anders, ebenso ihr Umgang damit. Die Frauen kommen aus komplett anderen Kulturen. Gewisse kennen ihre Rechte nicht, und viele sprechen eine andere Sprache. Es ist also an uns, sie und ihre Partner in Zusammenarbeit mit zertifizierten Dolmetschern gut zu informieren.»
Sexuelles Empfinden trotz Verstümmelung
Es gibt verschiedene Arten von Genitalverstümmelung, alle sind gemäss der UNO und der Schweizer Rechtsprechung illegal. Einige Formen umfassen auch die Entfernung der Klitoris. Trotz deren Entfernung könnten Frauen aber theoretisch sexuelle Lust empfinden: «Die Klitoris kann nicht vollständig entfernt werden, sondern nur äusserlich. Im Innern ist sie ungefähr 12 Zentimeter gross. Mit oder ohne operativen Eingriff ist es also möglich, dass eine beschnittene Frau Lust verspürt.»
Wenn eine Frau es wünsche, könne der versteckte Teil der Klitoris operativ nach aussen versetzt werden. Der Eingriff an sich dauere eine Stunde, brauche aber eine enge Betreuung davor und danach, nicht nur von der spezialisierten Frauenärztin selbst, sondern auch von einer spezialisierten Psychologin.
Sendebezug: Heute Morgen, 6.2.2020