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Ausstieg aus der Prostitution «Ich musste 24 Stunden am Tag verfügbar sein»

Ein Vorstoss im Parlament will die berufliche Umorientierung für Sexarbeiterinnen erleichtern. Eine von ihnen berichtet über ihren beschwerlichen Weg.

Laut Schätzungen gibt es rund 20'000 Prostituierte in der Schweiz. Nicht alle arbeiten legal hier – und auch nicht alle freiwillig. Darum hat das Parlament heute einen Vorschlag diskutiert, wie die berufliche Neuorientierung für Sexarbeiterinnen erleichtert werden kann. Denn dafür sind Geld und rechtliche Sicherheit nötig.

Ständerat lehnt Motion zur Ausstiegshilfe ab

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Mit einer Motion wollte die ehemalige Mitte-Nationalrätin Marianne Streiff den Bundesrat beauftragen, sicherzustellen, dass Menschen, die aus der Prostitution aussteigen wollen, schweizweit bedarfsgerechte Ausstiegsangebote und -begleitung erhalten. So sollte eine soziale und berufliche Neuorientierung der Betroffenen ermöglicht werden. Das Konzept sollte unter anderem dafür sorgen, dass sie sichere und erschwingliche Unterkünfte, Arbeits- und Ausbildungsangebote oder auch psychotherapeutische Betreuung erhalten. Auch sollte der rechtliche Status der Betroffenen geklärt werden.

Im Nationalrat hatte die Motion noch eine Mehrheit gefunden. Die Ständeratskommission lehnte sie nun allerdings aus «formellen Gründen» ab, wie Kommissionssprecher Daniel Jositsch (SP/ZH) erklärte. Das Anliegen der Motion werde zwar unterstützt. Doch es handle sich um den Kompetenzbereich der Kantone. Eine Mehrheit im Rat teilte die Ansicht der vorberatenden Kommission. Die Motion ist damit vom Tisch.

Wer mit Betroffenen spricht, merkt aber schnell: Im Sex-Business gibt es noch viel mehr Probleme. Gegenüber SRF News schildert Sonja Keller (Name geändert), was sie erlebt hat. Seit Januar arbeitet sie nicht mehr als Sexarbeiterin. Nach 16 Jahren will sie raus aus der Prostitution, die sie körperlich und seelisch an ihre Grenzen brachte.

«Ich musste 24 Stunden am Tag verfügbar sein», erinnert sich Keller. «Wir durften nie Nein sagen, mussten Alkohol und Drogen nehmen. Das gehört zum Business.» Bald bekam sie gesundheitliche Probleme. «Man nimmt die Energien der verschiedenen Männer auf, damit muss man umgehen können. Ich wurde psychisch krank, noch heute leide ich unter Depressionen.»

Ich musste komplett untertauchen und mich vor meinem früheren Chef verstecken.
Autor: Sonja Keller Ehemalige Sexarbeiterin

Heute macht Keller eine Lehre als Kosmetikerin, arbeitet Teilzeit in einem Restaurant und bezieht Sozialhilfe. Ohne entsprechende Organisationen hätte sie den Weg aus der Sexarbeit nicht geschafft. Sie halfen ihr dabei, eine Lehrstelle zu finden und beim Kontakt mit dem Sozialamt. «Die Frauen haben mir gezeigt, dass es ein anderes Leben gibt», sagt die ehemalige Sexarbeiterin. Und berichtet davon, wie sie alle Brücken hinter sich abreissen musste – um sich zu schützen: «Ich musste komplett untertauchen und mich vor meinem früheren Chef verstecken.»

«Am Ende kämpfen wir um unser Leben»

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Frau in schwarzen Stiefeln vor rotem, beleuchtetem Hintergrund.
Legende: Keystone/DPA/Hauke-Christian Dittrich (Symbolbild)

Der Druck auf die Sexarbeiterinnen wird immer grösser. Denn in den letzten Jahrzehnten sind die Preise ständig gesunken. Für die Mehrheit ist es ein prekärer Job. Das bekam auch Sonja Keller zu spüren. «Der Zuhälter nimmt die Hälfte des Umsatzes, dazu kommen viele weitere Abzüge: Die Miete oder andere Ausgaben, die der Zuhälter hat. Am Ende kämpfen wir um unser Leben.»

Keller stieg in die Sexarbeit ein, weil sie ihre Schulden tilgen wollte. Sie hat – wie viele andere – an vielen Orten in der Schweiz gearbeitet. «Irgendwie muss man ja Geld verdienen, und die Kunden wollen immer wieder etwas Neues. Sobald man an einen neuen Ort kommt, ist man extrem gefragt. Das ändert sich aber schon nach einem Monat.»

Keller geht es seit ihrer beruflichen Neuorientierung besser. Sie geniesst es, sich wieder frei zu bewegen, ein normales Leben führen zu können. In die Badi gehen, grillieren, mit Freundinnen abmachen.

Rebecca Angelini von der nationalen Dachorganisation der Beratungsstellen für Sexarbeitende sagt, speziell bei Opfern von Straftaten brauche es vor der beruflichen Neuorientierung viele andere Massnahmen. «Dazu gehören medizinische und psychologische Unterstützung, aber auch ein sicherer Ort.»

Wenn Opfer zu Täterinnen werden

Aus dieser Sicherheit heraus folgt ein zweiter Schritt, ein ebenso folgenreicher wie mutiger: Die Frage, ob man die Täterschaft anzeigen möchte. Allerdings: Nicht alle Sexarbeiterinnen sind Opfer von Straftaten und nicht alle wollen sich beruflich neu orientieren. «Eine Sexarbeiterin, die aus wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen in Osteuropa kommt, hat zum Beispiel nur wenige Optionen», sagt Angelini. «Für sie ist die Sexarbeit vielleicht die beste Option und die berufliche Neuorientierung kein Thema.»

Karte der Schweiz mit markierten Gebieten für Angestellte und blau markierten Gebieten
Legende: Ein Problem sind die unterschiedlichen Bestimmungen: Während sich die Sexarbeiterinnen etwa im Aargau, Bern oder St. Gallen anstellen lassen müssen, müssen sie in Genf, Freiburg oder Zürich in der Regel als Selbständige arbeiten. Oft unterscheiden sich die Regeln gar von Gemeinde zu Gemeinde oder von Amt zu Amt. SRF

Die unterschiedlichen Regelungen führen laut Angelini zu Abhängigkeiten: «Ein Bordell-Betreiber bekommt sehr viel Macht. Er kann der Frau sagen, dass sie froh sein kann, überhaupt einen Job zu bekommen – während er die Bürokratie regelt.» Dafür sollen die Frauen einen grossen Teil von ihrem Einkommen abtreten.

Besonders schutzlos sind die Frauen, wenn sie illegal in der Schweiz arbeiten. Bei Gewalt können sie sich dann nicht an die Polizei wenden. Generell fokussiert die Polizei laut den Frauenorganisationen zu sehr auf Repression. Angelini fordert einen Fokuswechsel: «Weg von diesen rein repressiven Kontrollen, wo die Polizei auf die Aufenthaltspapiere von den Sexarbeitenden, hin zu mehr Schutz.» Die Realität sei aber eine andere: In der Praxis würden Sexarbeiterinnen oft als Täterinnen behandelt, auch wenn Gewalt im Spiel sei. «Sie werden von der Polizei diskriminiert und stigmatisiert.»

10vor10, 28.05.2024, 21:50 Uhr

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